Mars 1-25

Die ersten 25 Eintragungen der Mars-Reise in fortlaufender Reihenfolge. Eine weitere Staffel aktueller Blog-Einträge werden sich ab mitte September 2013 auf der News-Seite finden lassen

1.

In der Aufnahme von 2002 schmettern die Bläser von Amores Perros in raschem Wechsel ihre Kleinen Sexten in den Saal und Celia Cruz singt dazu das Lied La Vida es un Carnaval. Mich hat die Balance zwischen melancholischer Tonart, raschem Rhythmus und aufmunterndem Text, auch wenn mich dieser immer etwas ironisch angemutet hat, stets fasziniert. Die tröstenden Worte, man solle nicht traurig sein und sich nicht an den Schrecklichkeiten dieses Lebens orientieren, das Leben sei schliesslich so schön wie ein Karneval, werden durch Salsa-Rhythmen vorangetrieben. Und dennoch verharrt das ganze Lied in Moll – als ob es den eigenen Behauptungen nicht ganz trauen würde.

Dieses Lied eroberte die Hitparade, als ich mich um den Mars-Flug bewarb. Es wurde zu meinem Leitmotiv, bis es mir irgendwann einmal aus den Ohren hing und ich zu den Klavierkonzerten von Rachmaninoff und zu Bitches Brew von Miles Davis wechselte. Mit der Zeit hing mir aber das Pathetische von Rachmaninoff zum Hals hinaus, während es Bitches Brew bis hierher ins Raumschiff geschafft hat. Sollte ich dieses Himmelfahrtskommando auf den Mars nicht überleben, so würde diese Musik als Endlos-Loop weiter erklingen, durchmischt vielleicht noch mit etwas Bach. Als Abgesang auf mein Leben. Näher zu dir, oh Gott.

Und unverhofft höre ich hier, am dritten Tag unserer Reise durchs All, aus den Kopfhörern von José wieder das Auf und Ab der Bläser aus La Vida es un Carnaval. José singt vor sich hin …para aquellos que se quejan, para aquellos que solo critican, para aquellos que usan las armas, para aquellos que nos contaminan, para aquellos que hacen la guerra… ay, no hay que llorar ahy, que la vida es un carnaval es mas bello vivir cantando… und so weiter. Und mir schiesst durch den Kopf: ein Lied musst du singen, Nikolaus, und wenn dir keines in den Sinn kommt, so brauch wenigstens deine eigenen Worte,  und seien sie noch so prosaisch. In diesem Sinne sollen diese Zeilen entstehen. Mit 30.000 Stundenkilometern durchs All.

2.

Hier draussen funktioniert der Wechsel vom Tag zur Nacht nicht so wie zu Hause. Das Zeitgefühl versagt angesichts des unaufhörlich gleichen, scharfkantigen Lichts. Es braucht schon den Blick auf die Uhr um festzustellen, ob es Zeit ist, die Jalousien herunter zu lassen oder hochzuziehen. Das kenne ich von meinen Reisen in den hohen Norden her, wo die Sommernächte hell bleiben, während im Winter 24 Stunden Finsternis herrscht.

Einer von uns muss immer Wache schieben. Die Allg. Arbeitsbedingungen, die wir schon vor Jahren unterschrieben haben, als von uns noch niemand recht glauben wollte, für den ersten Flug auch wirklich ausgewählt zu werden, sehen es so vor. Die Wache soll verhindern, dass wir plötzlich von Marsmännchen überrascht werden könnten. Überdies sind wir unseren Abermillionen von Zuschauern Wachsamheit schuldig. Sie beobachten uns zu den unterschiedlichsten Zeiten. Sie haben uns über die Jahre in zwölf Abstimmungsrunden ausgewählt und finanzieren jetzt unseren Flug, indem sie uns beim Zähneputzen, Essen und Navigieren über die Schulter schauen. Schlafenden zuzuschauen hingegen ist nur dann lustig, wenn sie träumen oder schnarchen. Hier hat aber noch niemand von uns laut geträumt, und in der Schwerelosigkeit schnarcht man nicht.

Wir liefern täglich Live-Unterhaltung aus dem All. Was auf Erden niemanden interessiert, wird hier oben zur Show. Jeder von uns durfte vor der Kamera schon scheissen und zeigen, wie man Spinat aus der Tube isst. Unsere Abneigungen und Vorlieben sind Abermillionen geläufig. Wir sind berühmt, auch wenn wir diese Berühmtheit niemals auskosten können. Niemand von uns wird je an der Ladenkasse erkannt werden und noch etwas gratis zugesteckt bekommen. Niemand wird uns je in einer Theatergala den besten Platz zuweisen, uns um ein Autogramm bitten, uns eine schöne Wohnung vermitteln oder Ferien auf einer Yacht ermöglichen. Wir befinden uns anderswo und kommen nicht zurück. Der Ruhm alimentiert einzig unser Gefühl, auserwählt zu sein unter acht Milliarden Menschen. Wir sind Pioniere und erweitern den Wirkungsraum der Menschheit um mehrere Millionen Kilometer. Das muss genügen und macht uns, so die offizielle Redart, stolz.

3.

Ich hatte nie die ernsthafte Absicht, zum Mars zu fliegen. Ich meldete mich an aus Spass und Neugier. Ich wollte erfahren, was alles im Gefolge einer solchen Anmeldung passieren würde. Mein Hauptargument für die Anmeldung war, dass ich mit den Mäusen, Hunden, Käfern und Affen, die schon ins All geschossen worden sind, durchaus mithalten könne. Die Mars-Reise sei überdies eine Alternative zum bevorstehenden Altersheim. Meine Bewerbung hätte einen witzigen populär-philosophischen Beitrag über die Gestaltung des Lebensabends werden sollen. Dieser endet, wie wir alle wissen, mit dem sicheren Tod. Weder vom roten Planeten noch vom Pflegeplatz im Grünen gibt es ein Zurück in lebendigere Zeiten. Zu beiden Orten führen Einbahnstrassen und zeigen in verschärfter Weise, was wir im eigenen Alltag gerne verwedeln: dass nämlich unser ganzes Leben einer Einbahnstrasse gleicht. Hinter uns schlagen ständig irgendwelche Türen zu und vorne hinaus geht es ums Organisieren der nahenden Verwesung.
Wider Erwarten überstand ich die Gesundheitstests und die weiteren Abklärungen für die Mission. So stiess ich zu einem dieser Mars-Teams, die im ostmalaysischen Dschungel in der Nähe von Sandakan erstmals ihre sozialen Kompetenzen einer Überprüfung unterziehen mussten. Wir hatten unsere Camps unmittelbar neben der Orang Utan-Station, wo in öden Palmöl-Hainen aufgegriffene, traumatisierte und ausgehungerte Tiere etappenweise wieder an die Wildnis gewöhnt werden. Während unserer mehrwöchigen Anwesenheit dort verkauften sie am Eingang des Geländes Doppeltickets, die sowohl die Besichtigung der armen Tiere als auch einen Augenschein unseres Traininglagers erlaubten. So wie die Affen gewöhnten auch wir uns allmählich an die neugierigen Blicke der allgegenwärtigen Kameras. Die Photolinsen wurden nicht müde, unsere Privatsphären unbarmherzig zu pulverisieren und uns auch noch bei den bescheuertsten und peinlichsten Übungen zu beobachten. Schnell wurden dann die Likes und Dislikes abgegeben, vor Ort, im Internet oder übers Handy. Immer cool bleiben hiess unsere Devise: niemanden hinter uns lassen und alles mitmachen. Gab es Würmer zum Essen, wünschten wir uns freundlich guten Appetit und verspeisten sie ohne auch nur mit den Wimpern zu zucken. Rutschte einer von uns im Schlamm aus und fiel auf die Nase, stand er mit Hilfe der anderen wieder auf und rannte hart mit sich selbst gleich weiter. Wurde einer von uns vom Publikum abgestraft, solidarisierten wir uns mit ihm und stellten uns vor ihn. Unser Ehrgeiz orientierte sich nicht an der siegreichen Bewältigung einer Aufgabe sondern am solidarischen Durchhalten der ganzen Gruppe. Das schien beim Publikum gut anzukommen und brachte uns wertvolle Punkte. Nicht der rücksichtslose Sieger stemmte die Gunst des Publikums, sondern die Tapferen, Solidarischen, Nimmermüden und die gutmütigen Gestalten, die alles mit sich geschehen liessen und nicht nachgaben. Ich zählte mich von Anfang an zur letzten Kategorie und sammelte damit zum eigenen Leidwesen anständige Quoten. Vielleicht wären ein unkontrollierter Gefühlsausbruch, ein Aufbäumen gegenüber diesem angesagten Schrott vonnöten gewesen, um meine Kandidatur zum Notausgang zu zwingen, doch irgendwie gefiel ich mir in der Rolle desjenigen, der es allen Recht machen wollte. Ich hatte wohl Angst, sonst das Gesicht zu verlieren und unserer Mannschaft die Reise zu vermiesen. So wurde ich wider Willen zu einem ernsthaften Kandidaten für diese Mars-Mission.

4.

Der Ground Control wollte in seinen Teams, die sich beim Fernseh-Publikum für die Mars-Reise empfahlen, unbedingt ein paar alte Kläuse wie mich drin haben. Auch wenn sich unsereiner nicht mehr so behänd von Liane zu Liane zu schwingen vermochte, waren wir für die ethische Legitimation des Vorhabens von grossem Wert. Es gab nämlich im Vorfeld weltweit heftige Diskussionen darüber, ob es vertretbar sei, junge Menschen ins Weltall zu schiessen im Wissen darum, dass sie nie mehr zurückkehren werden. Man sprach von „fliegenden Särgen“.
Die Gegner zeichneten das Bild einer neugierigen aber auch etwas unbedachten Jugend, die vieles ausprobieren will, vielleicht auch eine Reise zum Mars, die sich aber der Konsequenzen, die ein solches Vorhaben in sich birgt, nicht genügend bewusst ist und frühere Entscheide einmal bitter bereuen könnte. Sie in eine Falle zu locken, aus welcher es kein Entrinnen mehr gibt, sei unethisch und verwerflich. Als Argumente dienten sowohl die grossen Scheidungsraten unter den Jungen als auch ihre Bemühungen, dass sie später ihre Tatoos ungeschehen machen wollen, dafür viel Geld ausgeben und Schmerzen in Kauf nehmen, um die Spuren ihres einstigen Übermuts herauszulasern.
Die Befürworter der Mars-Mission bekundeten Mühe, dagegen zu halten. Sie lobten die Abenteuerlust und den Mut der Jungen, die einen solchen Vorstoss ins Weltall erst möglich machen. Sie erinnerten an Christoph Kolumbus und andere Entdecker unerforschter Kontinente, die mit königstreuen und zu ihrem Kapitän loyalen Seeleuten in die Weiten der Meere aufbrachen zu unbekannten Horizonten, von wo es auch keine Gewissheit auf Rückkehr gab. Doch diese Argumente verfingen kaum. Zu Recht wurde entgegnet, dass sich die Zeiten von damals kaum mit denjenigen von heute vergleichen lassen: anderer Wissenstand, andere psychische Konstitution, andere Technologien, andere Werte.
Kaum hatte sich die Empörungswelle etwas gelegt, wurde die Sexualität aufgekocht. Sollten junge Paare ins All geschickt werden, so würde die hohe Strahlenbelastung beim Nachwuchs zwangsläufig zu Mutationen und Fehlentwicklungen führen. Die Alternative, sich vor der Abreise unterbinden zu lassen, stiess auf ebenso grossen Diskussionsbedarf wie auch auf keine eindeutigen Resultate. So traten ältere Semester immer stärker in den Fokus, bei denen man davon ausgehen konnte, dass ihr sexueller Trieb von Natur aus schon etwas nachgelassen hat, und wo auch kein Kinderwunsch das sexuelle Verhalten mehr beeinflusst. Die Frage blieb einzig, ob man uns Alten zusätzlich noch triebhemmende Präparate verabreichen sollte.
Die ethischen Diskussionen waren schädlich für das Vorhaben, denn schon drohten wichtige und einflussreiche Sponsoren wieder auszusteigen, weil derartige Diskussionen nicht mit den Grundsätzen der eigenen Corporate Governance übereinstimmten. Wir Alten aber sorgten dafür, dass die Kirche schliesslich im Dorfe blieb. Wir über 60jährigen fanden unter erleichterten Bedingungen in allen Teams Zuschlupf. Wir repräsentierten Besonnenheit und Gelassenheit. Uns traute man zu, in vollem Bewusstsein die Argumente für und wider einer Mars-Mission gegeneinander abgewogen zu haben. So konnten wir die Wogen der Empörung etwas glätten.
Von nun an durften wir uns Mars-Aspiranten nennen. Man erwartete von uns, einen entsprechenden Button am Revers zu tragen. Wir erhielten ein Salär und wurden zu öffentlichen Personen. So lernte uns allmählich die ganze Welt kennen. Sie hatte die Qual der Wahl. Welches Team sollte den Zuschlag bekommen?

5.

Jetzt bewegen wir uns auf einer schönen Ellipse jede Stunde 30.000 Kilometer weiter von der Erde weg dem Mars zu. Mit mir sind bekanntlich die chinesisch-stämmige Michelle aus Malaysia, der indisch-stämmige John aus Südafrika und der José aus Kolumbien. 1,5 Milliarden Zuschauer haben uns auserkoren, als erste Menschen dorthin zu fliegen. Mir ist es noch heute ein Rätsel, weshalb gerade wir den Zuschlag bekommen haben. Für persönliche Überraschungen taugen wir jedenfalls nicht mehr. Man kennt uns bereits in- und auswendig. In jedem Trainingscamp haben wir weitere Eigenheiten, Absonderlichkeiten, Schwächen, Stärken und Stationen unseres bisherigen Lebens preisgegeben. Jedes Kind in Manila, Sidney und Rio kann unsere Lieblingsspeisen nennen, alle Lehrer Lateinamerikas bewundern das Rechentalent von José und seinen skurrilen Hang, den Blähungen melodieähnliche Töne zu entlocken (er furzt zu La Vida es un Carnaval). Ein riesiger Fanclub in Asien schliesslich bewirtschaftet Michelles Liebenswürdigkeit. Mehr Diskussionen allerdings werfen ihre Ungeduld beim Anlegen von Make-ups, ihre verflossenen Liebschaften, ihre malaysische Angewohnheit, hinter jedem Satz ein lah anzuhängen und eine Handbewegung ab, die sich nur schwer beschreiben lässt aber auf der ganzen Welt schon Nachahmerinnen und Nachahmer gefunden hat, weil sie in einer einzigen Aufwärtsbewegung eine Mischung von Ärger, Trotz und Versöhnlichkeit vereint. Sie trägt bereits einen Namen: Michelle. Man las zum Beispiel in der online-Ausgabe der New York Times kürzlich: der Präsident der Vereinigten Staaten habe die Pressekonferenz mit einer Michelle beendet. Ganz Afrika schliesslich schmunzelt über Johns charmante Annäherungsversuche an Michelle und seinen häufigen Griff in den Schritt wie weiland Michael Jackson. Als ob er die Krätze hätte. Bei mir waren sowohl meine Penislänge als auch meine Angst, punkto Fitness und geistiger Beweglichkeit mit den anderen nicht mithalten zu können, ein grosses Thema auf der nördlichen Hemisphäre. Männiglich stellte sich auch die Frage, ob ich die Alte Welt auch richtig vertreten könne. Für diese aus Unterhaltungsgründen ziemlich heterogene Gruppe jedoch schien ich die richtige Wahl zu sein. Ich fand für jede noch so bizarre Situation die passenden Worte und liess mich nicht so schnell aus der Ruhe bringen. Auch solche Kompetenzen scheint es im All zu brauchen.

6.

Der Ground Control hat zusammen mit seinem Dramaturgen-Team einen minutiösen Ablauf der Reise geplant, damit es den Zuschauern während der langen langen Reise nicht langweilig wird. Nach der gottesfürchtigen Phase des Staunens angesichts des sich schier endlos ausdehnenden Weltalls und nach der Eingewöhnung an die Schwerelosigkeit wird unsere Reisezeit in dramatische Phasen eingeteilt, einer Soap-Opera nicht unähnlich, damit die Aufmerksamkeit anhält und die Einschaltquoten nicht einbrechen. Zuerst wird John ausrasten, weil er seine Zahnbürste nicht mehr findet, die ich ihm zuvor versteckt habe. Er wird uns alle anöden, wohl wissend, wo Kameras und Mikrophone installiert sind. Es wird dabei auch um den Vorwurf gehen, dass er sich als einziger seine Zähne nicht hat ziehen lassen, obschon es uns allen anempfohlen wurde, um möglichen Zahnschmerzen vorzubeugen. Wir andern werden uns während seines lächerlichen Wutanfalls auf die andere Seite des Raumschiffs begeben, mit unseren Gebissen klappern und um unsere eigene Sicherheit bangen, denn John könnte ja in seinem Zorn einen lebenswichtigen Schalter betätigen. Doch dann wird wieder Frieden einkehren, weil Michelle besonders lieb zu ihm sein wird. Wir haben auf der Erde einige Male darüber diskutiert, ob das Drama mit einem Liebesakt in der Schwerelosigkeit enden soll. Doch Michelle ist sich nicht sicher, ob sie nicht gerade zu diesem Zeitpunkt die Periode haben wird, was alle Glaubensgemeinschaften, welche die Unreinheit menstruierender Frau predigen, zur Weissglut bringen könnte. Deshalb behielt sich Michelle lange vor, auf die geschlechtliche Vereinigung mit John zu verzichten. Meinem Vorschlag schliesslich, das Drama müsse so angesetzt werden, dass Michelles Monatsblutung vorbei sein wird, wurde stattgegeben. Denn auf die erste sexuelle Vereinigung im Weltraum sollten wir hier draussen nun wirklich nicht verzichten. So etwas zieht.

Gemäss Planung ist dann Michelle mit einer saftigen Eifersuchtsszene an der Reihe. John  wird für ihr Empfinden zu viele Emails an seine zurückgebliebene Freundin Anna schreiben. Es wird an José und mir liegen, Michelle wieder versöhnlich zu stimmen, indem wir John auffordern, sich mit seinen Emails an Anna etwas Zurückhaltung aufzuerlegen. Zumindest von mir wird diese Mahnung nicht von Herzen kommen, denn Johns Postillen könnten dereinst einen ganz speziellen Einblick in die Gefühlslage eines jungen Marsfahrers, der unter einer übergrossen Portion Testosteron leidet, gewähren. Anna ist eine entzückende Person mit armenisch-iranischen Wurzeln, ich habe sie am Rande eines Camps einmal kennengelernt und von ihr einen ausgezeichneten Eindruck gewonnen. Sie ist jung, hübsch und hat ein bezauberndes Lächeln. Sie arbeitet für eine Software-Firma in Abu Dhabi und hat nie ganz verstanden, wieso John unbedingt auf diesen Mars fliegen wollte. Sie legte sein Streben als verdeckte Absicht aus, sich von ihr trennen. Die Zerrissenheit Johns zwischen der praktischen Michelle und der entfernten Anna scheint mir echt, und über der ganzen Korrespondenz zwischen Abu Dhabi und unserem Raumschiff wird Melancholie herrschen. Beide werden sich nie mehr sehen.

Dann wird es Streitereien in wechselnden Konfigurationen geben. Laut Drehbuch muss ich es für lange Zeit mit Michelle am besten können, was mir insofern schwerfallen wird, weil ich mich schon heute über ihr langes schwarzes Haar ärgere. Jedes Mal, wenn sie sich kämmt, verstopfen nachher herumfliegende Haare Ventilation und Abflussrohre. Hätte sie doch lieber ihre Haare kurz geschnitten als sich ihre Zähne ziehen lassen.

Laut Drehbuch wird José als nächster an der Reihe sein mit einer autistischen Performance. Seine Furze werden schrecklich stinken, und alles wird ziemlich authentisch herüberkommen, weil sich bei José tatsächlich eine besondere Ausformung von Autismus ausmachen lässt. Zum Schluss werde ich dann mit einem heftigen Weltraum-Koller meinen Beitrag zur Weltraumdramaturgie leisten. Ich werde grundlos grantig sein, wie es einem älteren Herrn gebührt. Ich werde mich über alles aufregen, nichts mehr wird mir recht sein. Es wird mich reuen, mich überhaupt auf den Flug begeben zu haben. Ich werde Heimweh haben. Ich freue mich jetzt schon darauf. Schade nur, dass ich damit noch warten muss. Halte ich es so lange aus?

7.

Die Abschiedsfeier in der Schweiz hat mir am meisten gefallen. Sie stand am Anfang einer ganzen Kaskade von Abschiedsfeiern. Im Vorfeld stritten sich die Stadt Schlieren und der Quartierverein Schwamendingen darum, wer sie ausrichten dürfe, bis sie sich dann auf die geografische Mitte, den Stadtspital Waid, einigten. Dort kurierte ich vor 40 Jahren beim damaligen Leberspezialisten Prof. Martin Schmid meine Hepatitis B aus und führte in den letzten paar Jahren mit Blick auf meine Mars-Mission die vielen Gesundheitschecks durch. Jetzt führt das Spital auf seinen Briefschaften den Claim Wir machen Astronauten fit.

Der Vortragssaal bietet etwa dreihundert Gästen Platz. Er war randvoll, viele mussten stehen. Neben meinen Familienangehörigen, die sichtbar verstört waren, weil sie niemals dachten, es könnte mit mir je so weit kommen, erschienen Freunde, Bekannte und Mitarbeiter aus verschiedenen Phasen meines Lebens. Vertretungen von Stadt, Kanton und Bund machten ihre Aufwartung und schüttelten mir die Hand. Sie überbrachten Ehrenmedaillen, Blumensträusse, Schokoladen und Swatch-Armbanduhren im Mars-Design. Ich wurde zum Sonderbotschafter der Schweizerischen Käseunion, des Schweizer Uhrenverbandes und der Pro Senectute erkoren. Die Festrednerinnen und –redner strichen hervor, dass die Schweiz eben doch noch zu den Pioniernationen gehöre, welche neue Horizonte zu erobern vermag. Klein auf Erden doch gross im Weltall. Sie lobten meine Courage und stellten fest, dass bei mir das Älterwerden mit einer Verjüngung einhergegangen sei, was sicher auch das Verdienst der hervorragenden medizinischen Versorgung und der Pharma-Industrie hierzulande sei. Zu meiner grossen Entzückung interpretierte darauf der junge Sänger Tizian von Arx David Bowies Lied Space Oddity („Ground control to Major Tom…“), wobei er Tom mit Nik ersetzte, was allerdings der tiefen Grundstimmung des Liedes etwas widersprach und die Provinzialität des Anlasses eher unterstrich. Gleichwohl. Das Lied war der Höhepunkt, wobei ich mir nachher sagen liess, dass auch meine Worte gut angekommen seien.

Bei meiner Verdankung, die sowohl vom Schweizer Fernsehen als auch von TeleZüri aufgezeichnet worden ist, von CNN, CCTV und anderen Sendern übernommen wurde und jetzt auf Youtube herumgeistert, sagte ich, dass sich nach unserer allgemeinen Vorstellung beim Sterben die Seele vom Körper löse und langsam ins All entschwebe. Deshalb werde noch heute in Sterbezimmern gerne das Fenster aufgetan, um der Seele einen ungehinderten Weggang zu ermöglichen. Bei mir hingegen werde wohl die Seele noch lange auf der Erde bleiben, während sich mein Körper in einer gut verschlossenen, sargähnlichen Kapsel auf Nimmerwiedersehen ins All begebe. Das eigentliche Experiment, das wir vollziehen würden, sei eine Art umgekehrtes Sterben.

Ich schloss mit diesen Worten: Auch auf dem Mars werden wir Menschen bleiben und uns auf den Frühstückskaffee und die frischen Brötchen freuen. Wir werden Neusiedler sein mit all unseren Angewohnheiten. Denn wir müssen uns auf keine neuen Kulturen einstellen. Wir müssen einfach auf einiges verzichten. Auf erweiterte Gesellschaft, auf Spaziergänge im Wald, aufs Skifahren und auf eine Bootsausfahrt dem Sonnenuntergang entgegen. Aber auch dieser Verzicht hat Tradition. Seit tausenden von Jahren leben Mönche und Nonnen in Klöstern in totaler Abgeschiedenheit, haben sich von der Welt verabschiedet, beten, arbeiten, lassen sich von nichts ablenken, sind ganz in sich gekehrt. Im Vergleich dazu werden wir geradezu Lebemenschen sein dort oben, in ständigem Austausch mit Milliarden von Menschen, allerdings mit jeweils 45minütiger Verzögerung, weil die Funksignale zur Übermittlung so lange benötigen. Diese Art des  verlangsamten Dialogs wird uns aber stets genug Gelegenheit bieten, klösterliche Denkpausen zwischenzuschalten. Ich bin mir sicher, wir kommen so auf Substantielleres und Lebenswichtigeres als beim schnellen, alltäglichen Chat.

Am meisten Respekt habe ich vor der eigentlichen Reise, eingepfercht in diesem Raumschiff. Wir übten das zwar ausgiebig, doch uns Menschen scheint uns ein seltsamer Freiheitsdrang auszuzeichnen, der uns von Ameisen, Bienen und Zebras unterscheidet. Wir wollen zuweilen unsere Privatsphäre einfordern und uns erholen von der Beobachtung anderer. Auch jahrelange Trainings können uns das nicht ganz austreiben. Ich sage Ihnen, die Vorstellung bleibt für mich unangenehm, den Alltag mit Menschen nicht meiner Wahl teilen zu müssen, auch wenn wir zwischenzeitlich trotz Heterogenität zu einem bestandenen Team zusammengeschweisst worden sind. Es ist mir überdies nach wie vor peinlich, wenn die ganze Menschheit mehr über mich weiss als ich selber. Denn zur Privatsphäre einer Person gehören auch Selbsttäuschung, Verdrängung und Vertuschung. Das alles ist in meinem gegenwärtigen Status nicht mehr möglich. Nicht zu vergessen alle Gerüchte, die sich ohne unser Zutun über jeden einzelnen von uns verbreiten. Sie machen aus uns Monster, Figuren des öffentlichen Anspruchs und der Fantasie. Umso dankbarer bin ich, heute hier in diesem überschaubaren Kreis zu sein, wo man mich wirklich kennt. Ich wäre euch allen zu grossem Dank verpflichtet, wenn ihr eure Stimme erhebt, sollten sich Dinge über mich verbreiten, die nicht nur mich sondern auch euch schmerzen, weil sie schädlich sind oder gar nicht stimmen. Ihr, die mich kennt, seid die einzigen, die dagegen halten können, ihr seid meine treuesten Fans.

Gleichwohl sehe ich ein, dass die Verminderung des eigenen Bedürfnisses nach Privatsphäre für eine erfolgreiche Reise dorthin erforderlich ist. Aus finanziellen Gründen aber auch aus solchen der Sicherheit. Wir werden mittels Einschaltquoten finanziert und es darf niemand ausflippen. Es darf auch niemand den Mut verlieren. Das wäre verheerend. So wird die Ankunft auf dem Mars nach dieser Stresserfahrung schon fast so etwas wie eine Rückkehr ins traute Heim sein. Wir kennen nämlich unsere Wohncontainer schon, unsere eigenen Betten und Badezimmer. Unsere Lieblings-T-shirts werden bereitliegen, die von uns ausgewählten Bilder werden an der Wand hängen, und im Badezimmer wartet auf jeden von uns sein Lieblingsshampoo. Wir haben in Nachbildungen dieser Behausungen schon tausend Nächte geschlafen. Wir kennen auch den Garten-Container, wo die Tomaten wachsen werden. Für all dies sollte unser Roboter Martin gesorgt haben. Er wirkt ja schon über ein Jahr dort oben und giesst die Pflänzchen regelmässig. Wenn wir ankommen, wird er uns im Livrée empfangen und uns in unsere Behausungen einweisen. Die frischen Brötchen werden aufgebacken und der duftende Kaffee aufgebrüht sein. Ob er es allerdings schafft, das Tischtuch zu entfalten und es schön hinzulegen, ist noch unsicher, die Software weist noch ein paar Fehler auf. Doch der reich gedeckte Frühstückstisch wird die Belohnung für die Anstrengungen des Fluges sein. Darauf freuen wir uns alle schon jetzt.

Und dann machen wir uns an die Beantwortung der Frage: taugt die Mars-Umgebung für eine Besiedelung und taugen wir als Besiedler dieses Planeten? Eigentlich keine Frage. Wir müssen es versuchen. Einmal dort, gibt es keine Alternative. Das ist unsere Mission. Ich bin nicht unstolz, an so prominenter Stelle mitwirken zu können. Das ehrt und verpflichtet mich zugleich. Ich danke den Sponsoren und den verschiedenen Institutionen für ihre Unterstützung und Hilfsbereitschaft, diese Mission zu ermöglichen. Und schliesslich danke ich dem Fernseh-Publikum, welches unser Team auserkoren hat, als erstes dorthin zu reisen. Auch die anderen neun im Wettbewerb gestandenen Teams hätten es verdient. Sie alle waren grossartig. Jetzt aber ziehe ich die warmen Socken an, ich habe mir sagen lassen, dort oben sei es saukalt.

8.

Mir ist kotzübel

Dort fliegt der Kotzkübel

Alles dreht sich, alles kehrt sich

Sterb ich oder werd ich

Es lupft mich

Abermals und nochmals

Und nochmals und nochmals

Ground Control: nur ruhig, es geht vorbei

– Was die alles wissen, fern vom gekotzten Brei

Schweisstuch der heiligen Veronika

Kein Lenz ist da

Schweisstuch der lieben Michelle

My belle, do I love you I love you I love you?

Es lupft mich

abermals und nochmals

Und nochmals und nochmals

Ground Control: in Ordnung die Daten

– Was? – Eine Meldung zum Raten

Die Gedärme schrecken

Zeit zum Verrecken

Scheiben voller Kotze

Instrumente voller Rotze

Es lupft mich

abermals und nochmals

Und nochmals und nochmals

Ground Control: die Kameras sind off

– Noch schöner, das gäbe Zoff

Ich elender Tropf

Mir explodiert der Kopf

Gift und Galle, fein zerstäubt

Und ich lalle, voll betäubt

Es lupft mich

Abermals und nochmals

kann ich noch, hab ich noch

Etwas im Gedärme? und oooocchh ooocchh

Chhhhaoo zzzpppfffttttttt pppfffff

Weltraum – Albtraum – Abschaum – Scheissdrauf

Ground Control: Atme

Zur Hölle mit dir du Mars, dein Preis zu hoch

Michelle: Atme

Stoppt das Ding! Zurück zum Glück!

Ground Control: Atme

Kühlung durch Spülung

Michelle: Atme

Oh wär ich nur, was trieb mich bloss?

Beide: Atme

Kehraus im Magen

Du hast das Sagen

Atme

(Die andern beiden stellen sich schlafen

Abermals und nochmals

Und nochmals und nochmals

Zahnschmelz-Bitter

Das Gehirn voller Splitter

Ich stink mich schwindlig

Nicht jetzt noch empfindlich!

Und nochmals und nochmals

Und nochmals und nochmals

Die Übelkeit fickt mich

– Elend

Atme

Und nochmals und nochmals

– Am End

Atme

Und nochmals

– Elend

Atme

Und noch

– Endlich?

Bis alles gegeben

– Endlich!

Was von mir bleibt

noch übrig?

Alles klar?

Roger

 

9.

Das hätte nicht hinausgehen dürfen gestern. Ich wusste ja, was auf mich zukommen würde. Darüber zu jammern steht einem Raumfahrer schlecht an.

Wir haben die Möglichkeit, diesen Angewöhnungsprozess an die Schwerelosigkeit in geordneten Bahnen ablaufen zu lassen. Erst wenn der eine sich ausgekotzt hat, soll der nächste seine Tabletten gegen Übelkeit absetzen. Ich war gestern der erste. Verdammt noch mal. Einmal Sterben und zurück. Heute fühle ich mich noch etwas dünnhäutig, anlehnungsbedürftig und babysanft. Abends, als das Gröbste vorüber war, ging’s ans Aufputzen. Die anderen halfen mir dabei. Danke. Den strengen säuerlichen Geruch jedoch wird diese Blechbüchse noch nicht so schnell wieder los. Heute ist José dran. Zusammen mit der Kotze wirft er die übelsten Flüche, welche die spanische Sprache kennt, aus. Haben die von der Ground Control wenigstens die Gnade, auch heute die Mikrophone und Kameras abzustellen? Jugendfrei ist das nicht, was momentan hier oben abgeht. Ein Drama der besonderen Art.

Was macht man eigentlich, wenn der andere um sein Leben ringt und man unmittelbar daneben sitzt? Schweigen und ignorieren? Oder Streicheln, sanft zureden und beschwichtigen? Oder den Siechenden doch eher laut anschreien, damit das Gekotze möglichst schnell draussen ist und man wieder zu Sinnen kommt? Ich merke, dass ich in dieser Rolle merkwürdig hilflos bin. Da läuft neben einem etwas ab, das mit keiner Aktion gestoppt werden kann. Michelle übernimmt die einzige Rolle, die mir sinnvoll scheint. Sie hält für José feuchte Tüchlein bereit und betupft seine Stirn. Das tat sie gestern bei mir auch. Heute Abend steht dann das zweite Putzfestival an.

Der Ground Control vermeldet, dass unsere Unpässlichkeiten die Verlängerung des Atomsperrvertrags zwischen den Vereinigten Staaten und Nord-Korea von den Titelseiten der Blätter verdrängen. Und der jüngste Bombenanschlag auf die Moschee von T. mit 130 Toten, hauptsächlich Kindern, ist gar auf Seite drei gerückt. Ich habe ein schlechtes Gewissen.

10.

Während heute im Hintergrund John mit üblen Lauten den Ton angibt, Michelle mit ihren lindernden Tüchlein hilfreich an seiner Seite schwebt und José sich von seinem gestrigen Turkey mit ausgiebigem Schlaf erholt, starre ich in den Weltraum. Unsere Luken befinden sich aus gutem Grund auf der sonnenabgewandten Seite, denn momentan toben Sonnenwinde und schicken ihre schädlichen Strahlen zu uns herüber. Ich verbringe meine Zeit mit Sterngucken. Hier Sterne, dort Sterne, überall Sterne. Wie viele davon sind Sonnen? Wer weiss das schon. Ich kann mich nicht entscheiden, wohin ich schauen soll. Manchmal stehen die Dinger so verdichtet, dass sie einzeln nicht mehr wahrnehmbar sind sondern als schlierige Tropfen Haufen bilden und sich in ihrer Summe zu einem wässrigen Milchschleim vermengen, der sich über den Horizont zieht. Die Sicht darüber hinaus bleibt verschleiert. Das Wissen, dass sich dahinter Abertausende weiterer Galaxien und Milchstrassen versteckt halten, gibt eine Vorstellung davon, wie klein nur dieser Schritt ist, den wir mit unserer Reise zum Mars unternehmen. Ein winziger Schritt für die Welt, aber ein grosser für uns Menschen. Wir lassen unser angestammtes irdisches Leben hinter uns und arbeiten uns für den Rest unserer Zukunft an einem dünnen Faden vor. Er könnte jederzeit reissen. Ist ein solches Leben in extremis wirklich erstrebenswert oder eine Verdammnis? Kommen wir für unsere pionierhafte Vorbildlichkeit in den Himmel, oder werden wir für unsere Naivität bestraft? Kameras und Mikrophone sind eingeschaltet, man sieht uns. Roger.

Zum tausendsten Mal die Frage, diesmal von Shirley aus Perth, ob mich Star Wars oder andere Weltraum-Odysseen inspiriert hätten, mich für diese Marsreise anzumelden.

– Liebe Shirley, gebe ich zur Antwort, ich muss dich enttäuschen. Captain Spock und seine Mannschaft haben mich nie interessiert.

– Aus dem Hintergrund piepst Michelle: Nikolaus, stopp das-lah. Du enttäuschst die Leute-lah. Hallo Shirley, also wir andern drei finden Star Wars absolut Spitze-lah.

Dann hört man John sich zum 30. Mal erbrechen. Er stöhnt um sein Leben. Michelle wendet sich wieder dem Kranken zu.

– Ich bemerkte zu Shirley: Siehst du Shirley, es gibt verschiedene Motive, eine solche Reise zu unternehmen. Die einen machen sie des Abenteuers wegen und der Faszination für Captain Spocks Geschichten, andere wiederum zum Nachdenken. Ich befürchte, die Abenteurer werden nicht ganz auf ihre Rechnung kommen. Wer sich auf Langeweile und Nachdenken einstellt, fährt glaub ich besser.

– Mit Verzögerung lässt sich Shirley spitz vernehmen: Langweilen kann man sich aber auf Erden schon genug. Dafür braucht man sich nicht erst mit einer teuren Rakete ins All zu schiessen.

– Michelle von hinten: Siehst du! Nikolaus, pass auf, was du sagst-lah!

– Shirley…, probiere ich das Gespräch wieder aufzunehmen.

– Shirley jedoch will mich nicht hören und fährt fort: Ich will doch euch nicht dabei zuschauen, wie ihr euch langweilt!

Jetzt nehme ich die Kamera zur Hand und richte sie auf John, wie er sich in der Schwerelosigkeit windet und seine Gedärme auskotzt. Michelle befindet sich schräg über ihm und betupft ihn mit ihren Feuchttüchlein. Ab und zu versucht sie, die ausgeworfenen Stückchen Kotze und den Schleim mit einer Art Schmetterlingsnetz einzufangen.

– Shirley, hier hast du deine action! rufe ich belustigt ins Mikrophon, und man hört aus Perth einen Aufschrei des Entsetzens, worauf sich der Ground Control meldet und mich mit ein paar technischen Fragen wieder auf Linie bringt. Ich lese die Instrumente ab und melde die Daten zur Erde, wohl wissend, dass ich dies nur der guten Form halber tue, denn die dort unten wissen das alles schon, was ich ihnen vermelde. Sie haben unsere Instrumente komplett im Griff. Wir sind hier nur Statisten auf unserem Weg zum Mars.

11.

Heute ist es an mir, Michelle mit Feuchttüchlein zu betupfen. Das gibt mir endlich das Gefühl des Nützlichseins hier im Raumschiff. Sie schwebt unter mir und windet sich. Ich habe meine Füsse in zwei Halterungen an der Wand B eingehängt und halte sie fest. Ich dränge sie, sich anzuschnallen, sie aber meint, wenn schon, denn schon. Mein Gott, ist die tapfer. Sie hat bei uns dreien Beobachtungen sammeln können und sich dabei wohl gesagt, so dämlich wie wir will sie sich nicht anstellen. Wir Herren der Schöpfung stöhnen einfach zu leicht unser Leid heraus. Sie hingegen ist die Ruhe in Person.

Wenn es sie überkommt, verkrallt sie sich in meine Arme. Zwischen den Kotz-Perioden atmet sie tief und verlangt nach Wasser. Nach einer Weile schwächt sich die Kadenz der Übelkeits-Attacken ab, und wir haben zwischenhinein Zeit, uns flüsternd zu unterhalten, während unsere Burschen sich mit irdischen Fragen auseinandersetzen. John zum Beispiel wird gefragt, ob er schon Heimweh nach seiner Anna habe, und José muss für eine Schulklasse im peruanischen Arequipa eine Mathematik-Aufgabe lösen, verwirrte aber mit der Bemerkung, hier oben herrsche nicht das Dezimalsystem…

– Ich glaube, das Kindergebähren ist nicht unähnlich, meint Michelle, da bist du auch einer gewaltigen Kraft ausgesetzt-lah, und du kannst dich ihr in keiner Weise erwehren-lah.

– Ich weiss, dass du keine Kinder hast, bemerke ich sanft, warst du aber einmal schwanger?

– Ich war sogar zweimal schwanger-lah, antwortete Michelle, einmal verlor ich das Kind vorzeitig, das andere Mal habe ich abgetrieben, weil ich wusste, dass ich es mit dem Vater des Kindes nie gut gekonnt hätte.

– Weiss der Ground Control davon?

– Ja, er weiss es-lah, wir kamen aber überein, das nicht publik werden zu lassen. Diese Information würde eine wichtige Zielgruppe gegen uns aufbringen. Und jetzt bin ich ja unterbunden-lah. Das war eine Grundvoraussetzung für die Kandidatur. Bin nun ja auch schon etwas älter.

– Dass du unterbunden bist, bringt natürlich eine andere Zielgruppe gegen uns auf.

– Ja, aber sie ist kleiner, übers Ganze gesehen.

– Reut es dich, dass du keine Kinder hast?

– Ich bedaure es. Wenn ich Kinder hätte, wäre ich nicht hier. Man sollte aber nicht das traurige Lieschen spielen, nur weil man vom Leben nicht alles bekommen hat, was man sich erwünschte-lah. Es liegen sonst noch genug Geschenke bereit, die man sich abholen kann, auch solche, die man sich nicht einmal gewünscht hat.

Nach einer Pause sage ich: Ich frage mich, ob auf mich diese Mars-Reise wirklich gewartet hat, oder ob ich mich beim Geschenk vergriffen habe.

– Alter Dummkopf. In deinem Alter würde ich mir darüber den Kopf schon gar nicht zerbrechen.

– Ich komme mir hier draussen vor, als ob ich in den falschen Zug eingestiegen wäre.

– Statt nach Kuala Lumpur nach Bangkok?

– Zum Beispiel. Nun gut, ich mag eigentlich beide Städte. Das wäre vielleicht gar nicht so schlimm.

– Statt nach New York nach Moskau?

– Mit dem Flugzeug. Auch nicht so schlimm. Vielleicht stimmt das Bild nicht ganz, ist zu wenig dramatisch.

– Ok-lah, statt Strick Gift?

– Da kommen wir der Sache schon etwas näher.

– Du bist so negativ, Nikolaus, du musst an die Sache glauben und dafür einstehen. Stell dir vor, die Welt wartet auf uns, damit wir tolle Entdeckungen machen und die Menschheit weiter bringen. Erinnerst du dich noch, wie wir auf Facebook „Martians Aspirants“ waren? Da herrschte ungehemmter Optimismus. Alle Freunde sprachen von „wir“, als ob alle Freunde die Fahrt zum Mars unternehmen könnten. Alle waren voller Hoffnung, mit von der Partie zu sein. Es gab Mars-Parties von Chicago über Darmstadt bis nach Shanghai.

– Ja, ich weiss. Mir schien diese Rottenbildung jedoch eher naiv.

– Naiv? Gut, wenn Enthusiasmus naiv ist, dann gebe ich dir recht. Aber ohne Enthusiasmus wären wir jetzt nicht da, wo wir sind.

– Genau das ist es. Ich weiss nicht, ob es gut ist, dass wir da sind, wo wir jetzt sind.

– Wir sind unterwegs-lah, that’s life.

 Michelle übergibt sich noch zweimal, dann spült sie sich den Mund und schnallt sich an zum Schlafen.

12.

Die Kommunikationsregeln sind in einem voluminösen und detailreichen Ordner klar festgehalten. Im Prinzip kommunizieren nicht wir sondern der Ground Control. Das ist eigentlich schon alles. Wir bieten lediglich Stoff und werden gefiltert wiedergegeben. Alles, was wir sagen, muss im Dienste der Mission stehen. Die publizistische Auswertung nimmt dabei die eigens für unser Vorhaben gegründete Franchising-Gesellschaft Mars Entertainment wahr.

Unter der internen Rubrik Last Words haben wir allerdings die Möglichkeit, zum eigenen Vergnügen und auf Vorrat einen nicht zur Publikation freigegebenen Blog zu pflegen, der zensurfrei ist, der aber so lange unter Verschluss bleibt, wie die Mission in geordneten Bahnen verläuft. Sollte aber an Bord oder auf dem Mars etwas schief und die Mission aus dem Ruder laufen, so können unsere Einträge zu Rate gezogen und später, nach den Abklärungen der Ursache, auch veröffentlicht werden. Wenn also Leser diese Zeilen hier zu Kenntnis nehmen, können sie davon ausgehen, dass etwas schief gelaufen ist.

Wie verhält sich meine Lust, meinen Blog veröffentlicht zu sehen, zum Tatbestand, dass vorgängig erst etwas Fürchterliches passiert sein muss? – Gibt es bei Mars Entertainment eventuell eine Person, die aus Gründen des Übereifers oder der eigenen Bereicherung zum Schluss kommt, meine Worte seien es wert, noch zu meinen Lebzeiten gelesen zu werden? Was hätte diese Person als Wistleblower zu gewärtigen, wenn sie  die Daten auf einen externen Server migriert und sie so unter Umgehung der offiziellen Absprache der Öffentlichkeit zur Verfügung stellt? Hätte ich sie vielleicht vorgängig bestimmen und ihr einen Teil meiner Honorare in Aussicht stellen können?

Die irdische Eitelkeit und das persönliche Geltungsbedürfnis schrumpfen nicht proportional zur Erdentfernung.

13.

Nun haben sich alle ausgekotzt. Der Alltag kann beginnen. Während Michelle und John noch schlafen, weil sie heute Abend Nachtwache schieben werden, gibt es für José und mich heute früh Säfte, Cerealien und Néscafé. José schwärmt während unseres Frühstücks von den Arepas in seiner kolumbianischen Heimatstadt Sincelejo, in Oel oder Butter gebratene Fladenbrote aus Mais. Man kann sie zuckern oder salzen oder anreichern mit geriebenem, säuerlichem Frischkäse. Dazu Rühreier und café con leche, gezuckertem Milchkaffee. Ich halte mich zurück, in ähnlichen Erinnerungen zu schwelgen und den Schabziger aus dem Glarnerland zu erwähnen, den ich hier oben schmerzlich vermisse. Ich wüsste nicht einmal seine Herstellung zu erklären.

Anschliessend gibt es turnen und Glieder strecken. Hier oben bekommen all die Geräte, die wir von den Gyms her kennen und die Menschen zu oft dämlichen und schweisstreibenden Verrenkungen veranlassen, eine existentielle Bedeutung. Unser Muskelschwund ist in vollem Gang und muss durch entsprechende Gegenmassnahmen in Schach gehalten werden.

Zur Mars-Kunde und zum Briefing wecken wir dann die anderen. Wir nehmen täglich die neuesten Reports über Mars-Forschungen, über die Aktivitäten unseres livrierten Robot-Dieners Martin auf dem Mars und andere Informationen zur Kenntnis und arbeiten sie in unsere Überlegungen, wie wir den Mars besiedeln wollen, ein. Dieses Aktenstudium mündet ins tägliche Briefing vor dem Mittagessen. Der Ground Control schaltet sich dazu ein, beliefert uns mit aktuellen Daten, beteiligt sich aber nicht an den Diskussionen, weil mit jedem Tag die Übertragungszeiten länger werden und unsere Briefings sonst zu einer endlosen Warterei verkommen würden. Feedbacks vom Ground Control werden erst eine gute Stunde später erwartet, zur Nachspeise sozusagen. Heute übrigens pressen wir aus den Plastik-Behältnissen Kalbsvoressen und Kartoffelstock in den Mund. Aufs Seelein im Kartoffelstock hingegen müssen wir aus naheliegenden Gründen verzichten. Auf dem Mars wird das dann wieder möglich sein. Ein Grund mehr, dort zu landen. Dazu trinken wir Coke Zero.

Dann starren wir wieder aus den Luken in den Weltraum hinaus, staunen einmal mehr über diese sich vor uns entfaltende Unendlichkeit und senden die entsprechenden Bilder zur Erde. Diese ist mittlerweile klein geworden. Irgendwann wird sie sich von anderen Gestirnen am Himmel mit blossem Auge kaum mehr unterscheiden lassen. Später schreiben wir alle noch ein paar Briefe den Liebsten nach Hause, auch wenn diese derselben Zensur unterworfen sind wie alles andere, was wir hier oben sagen und tun. Aber eine unzensierte Kopie davon geht immerhin zu den Last Words.

Ich habe Hemmungen, Briefe zu schreiben. Ich wüsste nicht an wen. Meine Liebsten sind alle weggestorben. Das hilft mir in meiner Gewissheit, doch am richtigen Platz zu sein. Ich fliege ihnen entgegen. In der Zwischenzeit pflege ich meinen Blog, der passt zu mir, ich habe mich schon ein bisschen an ihn gewöhnt.

14.

Ist das jetzt unser klösterliches Leben hier draussen? Anstelle von Gebeten die Meditation vor dem Altar der Instrumente und anstelle des Spaziergangs im Klostergarten die körperliche Ertüchtigung an den Geräten? Dazu das Schnarren des Ground Control und die Musiken unterschiedlichster Stilrichtungen aus den Kopfhörern der anderen drei? – Wir sprechen kaum miteinander. Jeder hängt seinen eigenen Gedanken nach. Die viel gefürchtete Langeweile tritt früher ein als gedacht. Sollte es schon Zeit sein, Johns Zahnbürste zu verstecken? Doch Michelle hat noch ihre Periode. Müssen wir jetzt den Dramen-Plan umstellen?

Eigentlich gefällt es mir so. Es herrscht eine kontemplative Ruhe, wie sie Altersheimen eigen ist, wohin ich eigentlich gehörte. Ein Schrecken aber für den Ground Control, der bereits seine Einschaltquoten in Gefahr sieht. Soll uns jetzt ein kleiner Meteoriten-Einschlag aus der Baisse helfen und für Aufregung sorgen? Oder sollen wir meinen Weltraum-Koller vorziehen oder Michelles Eifersucht-Drama? Dafür müsste aber John endlich beginnen, seiner Anna Emails zu schreiben, erst dann würden Michelles Klagen Sinn machen.

Wir halten am Drehbuch fest. Die ersten Tage verlaufen so, wie sie halt verlaufen. Für Abwechslung sorgen Fragen, die uns von unseren Zuschauern gestellt werden.

– Was nervt dich bis jetzt am meisten auf der Reise, John? (Suzanne aus Erstfeld, Germany.)

Es fällt mir momentan nichts ein, was mich nerven könnte, Susanna…

– Suzanne!

– Entschuldigung, Suzanne. Wir haben den ganzen Flug auf Erden bis ins letzte Detail geübt. Mich würde es nerven, wenn es sich hier oben nicht so verhalten würde, wie wir das vorgängig geübt haben.

 – Was gefällt dir bis jetzt am meisten auf der Reise, Michelle? (Nancy Ng aus Singapur.)

Alles, Nancy. Es ist so unglaublich aufregend-lah. Ich kann es noch gar nicht fassen. Die Aussicht! Die Sterne! Die Distanzen-lah! Man wird ganz klein. Wie ist denn das Wetter heute in Singapur, Nancy? Grüsse mir alle-lah.

– Danke Michelle, ich werde es ausrichten-lah. Es regnet momentan ziemlich heftig hier…

Michelle unterbricht: Jetzt fällt mir etwas ein, an das ich mich erst gewöhnen muss. Es gibt kein Wetter hier-lah. Es regnet nicht. Die Sonne scheint unentwegt-lah. Hier oben wird mir erst bewusst, wie sehr das Wetter bei uns allen nicht nur ein Thema war sondern uns auch stimmungsmässig beeinflusste-lah. Wir müssen uns erst daran gewöhnen, dass wir kein Wetter haben.

– Wow, Michelle, das ist aber interessant-lah. Daran habe ich gar nicht gedacht.

– Siehst du, Nancy, die banalsten Sachen werden hier oben plötzlich zum Thema-lah.

Fragen an mich werden keine gestellt, dabei hätte ich auf jede Frage eine Antwort. Ich hätte zum Beispiel gerne etwas über die Sonnenwinde erzählt, die derzeit blasen und uns mit ihren Strahlen in Gefahr bringen. Aber die interessieren niemanden, und von einem alten und eher ängstlichen Mann vorgetragen noch weniger. Mir fehlt der Sex Appeal, der zu solchen Fragen inspirieren würde.

Jetzt aber ist José dran.

– Fehlen dir die Mädchen? (Anibal Pereira aus Managua, Nicaragua.)

– Wir haben ja eine Frau an Bord, Anibal, sagt er trocken, nicht ahnend, dass da eine Falle auf ihn warten könnte. Die Michelle ist hier. Wieso fragst du denn?

– Äh, also, ich meine, äh…

Jetzt erlöst der Ground Control José: Die Fragestunde für heute ist vorbei. Wer weitere Fragen hat, kann sich unter folgender Telefonnummer melden und eine Frage hinterlassen….

15.

Im Laufe unserer jahrelangen Vorbereitungen besuchten wir auch die Heimatorte der Team-Mitglieder. Eine Propaganda-Tour mit Herz. Für José fuhren wir nach Kolumbien. Im  Parque Santander von Sincelejo vor der Kathedrale wurden wir vom Gobernador und vom Alcalde und von ihren mit vielen Blumen geschmückten Ehrendamen empfangen. Professoren der lokalen Universität, Honoratioren unterschiedlicher Herkunft und Fan-Mitglieder des lokalen Mars-Clubs ergänzten das Empfangskomitee. Die Banda Departamental de Sucre spielte, und mir fiel auf, dass der Dirigent das Orchester nicht antreiben musste, sondern dass das Orchester ihn antrieb. Es juckte ihn förmlich, und er fing an zu tanzen, weil die Mannen die Musik so im Griff hatten, dass es ihn nur noch als ersten Zuhörer brauchte, der mit seinem Tanz bestätigte, dass sie alle richtig spielten.

Verloren stand José neben sich und schaute dem Treiben zu – er wippte zum Rhythmus ganz zögerlich, sonst zeigte er keine Regung. Sein Verhalten bestätigte, was wir schon seit langem von ihm wussten. Er tut sich schwer mit anderen Menschen. Dies scheint der Preis zu sein für seine wahrhaft genialische Ader im Bereich der Quantenmechanik, der Mathematik und der Ingenieurkunst.

Seine Mutter war Volksschul-Lehrerin, sein Vater betrieb eine kleine Manufaktur. Lokale Vereine konnten sich dort Gorras, Sportmützen, mit ihren eigenen Insignien herstellen lassen. José hatte eine kleinere Schwester. Sie hiess Maria Elena. Sie kam mit einem Down-Syndrom zur Welt kam. Er liebte sie abgöttisch, wie uns seine Umgebung glaubhaft versicherte. José galt als fröhliches Kind mit grossen musischen Talenten. Er malte, baute mit Klötzen grosse Burgen und sang im Kinderchor die erste Solo-Stimme. Auch Fussball spielte er. Dann geschah das Unglück. Seine Eltern wurden in einen nie ganz aufgeklärten Autounfall verwickelt und verbluteten dabei. Plötzlich stand der zehnjährige Bub alleine da mit seiner kleineren behinderten Schwester. Seine Verwandtschaft wollte für die beiden nur das Beste und trennte die beiden Kinder. José wurde bei der Familie eines Onkels versorgt und Maria Elena in einem anderen Dorf bei einer Tante, drei Autostunden voneinander entfernt.

José sollte Maria Elena nie mehr sehen, denn schon bald musste sie mit einer schweren Lungenentzündung ins örtliche Regionalspital eingeliefert werden, wo sie im Alter von neun Jahren starb. Der jähe Verlust seiner Eltern und die Trennung von seiner kleinen Schwester, welche in einem unerwartet frühen Tod endete, brachen ihm das Herz. Es schien, als ob er darauf als Notmassnahme seinen Schalter, der für die Steuerung seiner Emotionen zuständig war, auf Rot gestellt hätte. Er wollte sich doch so sehr um seine kleine Schwester kümmern. Er hielt es für einen Auftrag seiner verstorbenen Eltern. Jetzt aber fühlte er sich schuldig, weil er diese Mission nicht erfüllt hatte. Er konnte nichts mehr gutmachen.

Er liess seine musischen Talente verkümmern. Nur seine Liebe zur Musik blieb, wenn auch auf die etwas merkwürdige Weise, indem er zu ihrem Rhythmus furzte und dabei oftmals die Tonlage traf. Dafür taten sich bei ihm ganz neue Talente kund. Mit einem Male glänzte er in der Schule mit naturwissenschaftlichen Kenntnissen, konnte hohe Prim-Zahlen auswendig dahersagen und zeigte plötzlich nicht nur Interesse sondern auch Kenntnisse in Astronomie, die er sich unmöglich aneignen konnte. Vielmehr erfühlte und erfasste er diesen Sternenhimmel intuitiv, wusste, wie die Mechanik der Planeten funktioniert und wie sich die einzelnen Galaxien und Gestirne zueinander verhalten. Schwarze Löcher und die Krümmung des Weltalls gehörten zu seinem kleinen Einmaleins.

Einsam zwar machte er nach Beendigung seiner naturwissenschaftlichen Studien, für welche er Stipendien erhielt, Karriere an einem astrophysikalischen Institut in San Diego, Kalifornien, und versorgte sich in seinem verkümmerten Seelenzustand mit dem Nötigsten aus Fastfood-Shops und Shopping Centers am Stadtrand. Ohne je Freunde gemacht oder ein nettes Mädchen kennengelernt zu haben, kehrte er später nach Kolumbien zurück, wo er als bescheidener Mathematik- und Physiklehrer an einer örtlichen Mittelschule unterrichtete und gleichzeitig als korrespondierendes Mitglied der Wissenschaftlichen Astrophysikalischen Gesellschaft der Berkeley-Universität zahlreiche in der Fachwelt sehr beachtete Artikel publizierte. Jede Woche soll er mit Blumen den örtlichen Bus bestiegen haben, um sie auf das Gemeinschaftsgrab seiner Eltern und seiner jüngeren Schwester hinzulegen. Sein grösstes Problem heute ist, dereinst nicht auf demselben Friedhof beerdigt zu werden. Sein grösster Wunsch besteht darin, dass es dereinst eine Technologie geben wird, die erlaubt, seine sterblichen Überreste zur Erde zurückzubringen und sie auf dem Grabfeld seiner Familie in Sincelejo beizugeben.

In Sincelejo, wen wundert es, statteten wir am zweiten Tag unseres Aufenthalts mit grossem Gefolge von Fotografen, Journalisten und Würdenträgern dem Grab seiner Eltern und seiner Schwester einen Besuch ab und legten Blumen hin. Ich müsste lügen, eine Träne in Josés Augen gesehen zu haben. Trotzdem war der Augenblick berührend.

16.

Zum Zeitpunkt der letzten Startvorbereitungen wurde ein für mein Alter exzellenter Gesundheitszustand festgestellt, der sich jetzt, mehr als zwei Wochen schon im All, nicht wesentlich geändert haben dürfte. Das Vorhofflimmern meines Herzens bleibt dank entsprechendem Beta-Blocker aus. Ich habe Vorrat für vier Jahre bei mir. Bis dann sollte Nachschub auf dem Mars angekommen sein. Dasselbe gilt für den Blutverdünner. Mein Blutdruck ist niedrig. Die Prostata verhält sich still. Ich trage zwei künstliche Hüftgelenke, die dank der Schwerelosigkeit keinen Belastungen ausgesetzt sind. Die Zähne sind gezogen. Schwachpunkt bilden allenfalls meine Augen. Ich nehme Tropfen, um den Augendruck tief zu halten, und ich laboriere seit längerem an einer Makula-Degeneration, die langsam fortschreitet. Deshalb habe ich vorsorglich die Anordnung aller Knöpfe hier im Raumschiff auswendig gelernt. Auf Erden ging ich wegen der Augen zweimal in eine ayurvedhische Klinik im indischen Kerala, wo sie mich täglich mit sechs Litern gewürztem Palmöl einstrichen und Augenbäder aus Curry-Essenzen und Ziegenmilch verabreichten. Das half. Ich grüsse von hier aus meine Masseure Shiva, Steve, Joseph und Kran ganz herzlich. Ihre professionelle Haltung, die sich in einer Mischung von liebevoller Umsorgung und hervorragender fachlicher Anwendung ausdrückte, wird mir in stets dankbarer Erinnerung bleiben, auch wenn meine Gedächtnisleistungen sonst etwas abgenommen haben. Gerne wiederhole ich mich, oder ich meine etwas gesagt zu haben, das ich noch gar nicht gesagt habe. Damit muss man bei Leuten meines Alters rechnen. Viele werden aufs Alter hin noch starrköpfig und belästigen einen mit dummen Behauptungen. Das wurde mir gottseidank noch nie attestiert. Während unseres täglichen Muskeltrainings verbinden wir uns mit Messgeräten, die alle Körperdaten zum Ground Control funken. Später bekommen wir dann Bescheid, wie gesund wir sind.

Für Medizinisches und Pflege ist bei uns Michelle zuständig. Die klassische Frauenrolle. Sie hat ein paar Semester Medizin studiert, arbeitete dann aber als Krankenschwester in Malakka, machte Weiterbildungen in verschiedenen Richtungen, insbesondere was Krebs-Behandlungen angeht. Die Wahl Michelles in unser Team dürfte ein Eingeständnis der Ground Control sein, dass wir wegen der Strahlenbelastung auf unserer Reise tatsächlich Gefahren von Krebsterkrankungen ausgesetzt sind. Jedes der Teams, das sich um den ersten Marsflug bewarb, hatte jemanden dabei, der sich in der Behandlung von Tumoren auskannte. Wegoperieren jedoch würden sie sich hier oben nicht lassen, dafür fehlen dann doch Technik und Knowhow. So fällt auch die Unterscheidung zwischen gutartigen und bösartigen Tumoren weg. Was wächst, wächst.

17.

Auf unserer Goodwill- und Abschieds-Tournee besuchten wir auch Michelles Heimatstadt. Wir reisten dafür nach Ipoh, Perak, Malaysia. Michelles Familie namens Wang ist chinesischer Abstammung. Auch wenn sie schon seit vier Generationen in Malaysia lebt, hat sie sich der Aneignung der ortsüblichen malaysischen Kultur und Sprache verweigert. Deshalb war das malaysische Königreich von Michelles Wahl zur ersten Frau auf einer Mars-Mission alles andere als begeistert, denn Chinesen gelten nicht als richtige Einheimische, sie verfügen auch nicht über dieselben politischen Rechte wie die muslimischen Malaysier. Michelles Familie spricht unter sich immer noch ihr Hokkien-Chinesisch, die Kinder besuchen chinesische Schulen, und insbesondere in Ipoh pflegen sie einen von örtlichen Höhlentempeln und den dort lebenden Gottheiten geprägten Buddhismus. Die Höhlen in den karstigen Bergen von Ipoh, die wie phallische Pfropfen in die Höhe ragen, bieten ihnen ein natürliches Refugium. Dort sind sie geschützt vor den Ansprüchen der sie umgebenden muslimischen Kultur. Michelles Grossmutter besucht diese heiligen Stätten täglich und bringt den Geistern, Göttern und Verstorbenen Opfergaben, besonders jetzt, wo Michelle im All ist.

Zum gemeinsamen Tempelbesuch nahmen wir Reis, hartgesottene Eier, Hühnerfrikassee, scharfe Sauce, eine Flasche Wasser, ein Päckchen Zigarette, Kerzen und Rosen mit. Im Dunkel des riesigen Höhlengewölbes wurde uns ein Tischchen bereitgestellt, auf welchem wir im Schein unserer Kerzen das Mitgebrachte ausbreiteten. Darauf schüttelten wir ausgiebig Räucherstäbchen und verneigten uns vor den zahlreichen Buddha-, Bodhisattva- und Elephanten-Statuen. Das Orakel mit einem hingeworfenen Halbmond, der auf die konkave Seite zu liegen kam, versprach eine erfolgreiche Reise. Dann packten wir die Speisen wieder ein und gaben die Rosen beim Pförtner ab.

In besonderer Erinnerung bleibt mir die Aufmerksamkeit von Michelles Familie, die sie dem Essen beimass. Dabei waren die besten Restaurants nicht unbedingt die teuersten und sahen schon gar nicht so aus, als ob dort kulinarisch Hochwertiges  zubereitet würde. Wir sassen auf wackeligen Plastikstühlen, assen aus billigem Plastik-Geschirr und tranken aus noch vom Spülwasser her nassen Blechnäpfen oder direkt aus der Bierflasche. Die Speisesäle waren laut und schmuddelig, der Fan an der Decke torkelte, und wir mussten das Besteck vor Gebrauch mit Papierserviettchen abwischen. Die Mahlzeiten jedoch bestanden aus Speisen, die meinen Gaumen aufs Angenehmste und Überraschendste reizten und die aus unzähligen differenzierten Düften und Geschmackskombinationen bestanden. Kross gebraten oder luftig zart hingehaucht, Konsistenzen, die rätseln liessen, ob es sich dabei um Suppe, Teig, Tee oder Sauce handle, Reis und Nudeln in allen Formen und Kocharten, und jede Beilage hielt eine besondere Überraschung bereit, die Herz und Magen staunen liessen. Mir schmeckten die scharf angebratenen Würmer in einer Koriander-Sauce ebenso wie die in Tomatensauce gekochten Hühnerkrallen, und die Peking-Ente war eine Delikatesse, die ich zwar von meinen zahlreichen Reisen nach China her bestens kannte, die aber vor dem Hintergrund dieses exotischen Ipoh mundete wie noch nie zuvor. In den Speisen schliesslich gelang die Vereinigung zwischen malaysischer und chinesischer Kultur, gewürzt mit indischen Ingredienzen, scharf wie Satan. Roti Chanai zum Frühstück und Rendang Curry für Zwischenhinein waren ganz einfach göttlich. Vor diesem Hintergrund kann ich Michelle nicht verstehen, dass sie sich ohne Zwang einer kulinarischen Zukunft verschrieb, der wir jetzt in diesem Raumschiff huldigen. Die Mahlzeitenzubereitung hier oben besteht einzig im Beifügen von Wasser oder Wasserdampf an vakuumverpackte, gefriergetrocknete Speisen, die wir aufsaugen wie das Kleinkind den Schoppen. Alle vier träumen hier oben von unseren Lieblingsspeisen auf Erden.

An den Festakt von Ipoh erinnere ich mich kaum. Sie sprachen Chinesisch und Malaysisch und kamen zu keinem Ende. Alles verlief steif und förmlich und entsprach so gar nicht Michelles spontanem Temperament. Begeisterung kam keine auf. Es war doch ein eher schmerzvoller Abschied und ein politischer Pflichtakt denn ein freudiges Ereignis. Der Saal im Convention Center war unterkühlt. Ich erkältete mich.

18.

An der Goodwill- und Abschiedsparty in John Hursels Heimat musste ich fehlen. Ich fühlte mich unpässlich und hatte Fieber. Dieser Umstand gab zu einigen Gerüchten Anlass. Ein Kranker auf Mars-Mission? Naja, auch Gesunde haben ihre schlechten Tage. Ich liess mir sagen, dass die Farewell-Party in Johannesburg überwältigend gewesen sei. Die ganze Stadt hätte sich die Beine aus dem Leib getanzt, egal ob aus Abschiedsschmerz, aus Freude oder Stolz.

Grosses Völkergemisch prägt Johns Hintergrund. Er braucht jeweils mehrere Minuten, um seine Herkunft zu verorten. Er stellt sie dar, als ob sie sein eigenes Verdienst wäre. Das ärgert mich zuweilen. Er kann sich doch einzig anrechnen, was er daraus macht. So, wie meine Kandidatur die Alten und die Alte Welt abdecken soll, was mich zuweilen sehr belastet, weil ich nicht weiss, wie ich das bewerkstelligen soll, so repräsentiert er andere Bevölkerungsgruppen und Erdteile. Hälftig ist er Inder. Er behauptet, Blut von Mahatma Gandhi fliesse in seinen Adern. Zur anderen Hälfte ist er, wiederum hälftig, Bure und Zulu und führt Nelson Mandela als Grossgrossgrossonkel an. Es sei allerdings noch komplizierter, setzt er gerne hinzu, und wenn man John zu diesem Zeitpunkt nicht stoppt, so trifft sich in seinen Genen bald die ganze Welt. Nigeria soll daran beteiligt sein, die Vereinigten Staaten, etwas Karibik, ein bisschen Italien und Griechenland, eine Prise Libanon und ein Schuss Judentum. Ich fühle mich jeweils bemüssigt, spitzig beizufügen, dass Indien und Gandhi auf der anderen Seite nicht genügten, um diese Hälfte abschliessend zu erhellen. Aber von Indien weiss er erstaunlich wenig zu sagen. Das interessiert ihn irgendwie nicht. Er meint wohl, mit einer innerindischen Differenzierung in der restlichen Welt nicht so viel Aufmerksamkeit holen zu können, was vielleicht auch stimmt. Denn das Trennende unter den Indern prägt dieses Land stärker als ein gemeinsamer Nationalstolz. Spezifikationen schwächen die Akzeptanz.

In den ersten Tagen im All verhielt sich John unauffällig. Er staunte, wenn der Ground Control ihn staunen hiess. Er beantwortete die vom Publikum an ihn gerichteten Fragen professionell und nichtssagend, wenn Zeit dazu war, zu Michelle verhielt er sich anständig, mit José konnte er nichts anfangen. Er nennt ihn nene, ein Kind. Ein erwachsener Mann ist seiner Ansicht nach nur, wer mit mindestens zwanzig Frauen geschlafen hat. Mich selber beäugt er mit Argwohn, er kann mich noch nach einem Dutzend Trainingscamps nicht genau einschätzen. Ich bin ihm zu alt. Er weiss nicht, ob er sich mit mir messen soll, oder ob ich von ihm unhinterfragten Respekt einfordere. Irgendwie amüsiert es mich, einen relativ jungen, selbstbewussten Mann von Welt verunsichern zu können.

Nun widerfuhr ihm vor kurzem ein Erlebnis, vor welchem wir uns alle seit Anbeginn fürchten. Plötzlich sah er Harold vom Team des Ground Control hier im Raumschiff. Im Gegensatz zur Erde aber trug er hier oben einen feuerroten Schnauz und einen grauen Strassenanzug mit Krawatte, wie wir ihn noch nie gesehen hatten. Hat sich Harold bei uns als blinder Passagier eingeschlichen? Harold sass an meiner Stelle an meinem Platz, betätigte ein paar Knöpfe und gab übers Mikrophon John Anweisungen. Wir anderen schliefen zu dieser Zeit. Harold soll John nicht angeschaut haben, ignoriert habe er ihn! Das brachte John am meisten durcheinander. John bekam übers Mikrophon Anweisungen von einer Vertrauensperson, die sich im gleichen Raum befand und ihn nicht zur Kenntnis nahm. Nach einer gewissen Zeit entschwebte Harold durch die geschlossene Luke. John konnte ihm eine Weile noch mit blossem Auge folgen, denn sein roter Schnauz blinkte, bis sich das Lichtlein allmählich im All verlor.

19.

Die Toilette ist für uns der einzige Rückzugsort. Dort fühlt man sich vor den Blicken des Publikums noch einigermassen sicher. Unseres Wissens sind dort die Kameras nicht freigeschaltet sondern lediglich aus Gründen der Sicherheit installiert. Was denn kann in diesem Klosett alles passieren, was unserer Sicherheit abträglich sein könnte? Sich aufhängen geht ja wohl nicht. Und doch. Das WC hat es in sich. In persönlicher Abgeschiedenheit wird sich dort jeder gewahr, in welch ungemütlichen Scheiss wir hineingeraten sind, aus welchem es keinen Ausweg mehr gibt. Wir alle sind in der abgeschlossenen Toilette mit Selbstvorwürfen und Selbstmitleidsattacken in einem Masse freizügig, wie wir dies gegenüber anderen nie zugeben würden. Das WC als Verstärkerraum für unsere Versagen, Fehlentscheidungen, Enttäuschungen und Hoffnungslosigkeiten. Hier weinen sogar harte Burschen und überlegen sich im Gestank ihrer Gedärme Dinge, die sie vor anderen verschweigen. 

Jeder von uns weiss, wo das Gift steckt, das uns einen schnellen Tod bescheren würde. Es befindet sich in der Schublade 15 dieser Toilette, zusätzlich gesichert mit einem Kontakt, der sofort Alarm auslöst, sollte sich einer von uns daran vergreifen. Die Frage dreht sich einzig darum, ob die anderen rechtzeitig zur Stelle sind, um das Gegengift aus Schublade 16 zu spritzen. Wahrscheinlich hat sich jeder von uns schon überlegt, im Ernstfall erst den Inhalt der Schublade 16 verschwinden zu lassen, bevor Nr. 15 aktiviert wird.

Es fällt mir auf, dass wir die Toilette jeweils mit besonders gut aufgesetzter Laune verlassen. Liegt es an der Intimspülung, die anstelle von Papier uns reinigt und einem das Gefühl wohltuender Frische verleiht? Oder liegt es vielleicht daran, die anderen wissen zu lassen, dass man in dieser Toilette dunklen Zweifeln keinen Raum gelassen und man nicht im Traum an Schublade 15 gedacht hat?

Der positiven Grundstimmung wird höchste Aufmerksamkeit geschenkt. Weltraum-Koller gilt als absolutes No-go. Ich wurde in unseren Trainingslagern mehrmals dahingehend kritisiert, allzu kritische Gedanken einzubringen und damit das Vorhaben zu gefährden. Der Ground Control hat Angst, dass sich mein Zynismus sowohl aufs Team als auch auf die Zuschauer übertragen könnte. Meine Popularität aber erlaubte offenbar kein härteres Durchgreifen und keinen Rauswurf, um den ich mich so sehnlichst bemüht hatte.   

Die Intimdusche verhindert auch, rechtzeitig Blut im Stuhlgang zu entdecken. Man sieht sich seinen eigenen Dreck gar nicht mehr an. Die Unkenntnis seines eigenen Zustandes trägt zur positiven Grundstimmung bei. Magenkrämpfe werden ihrer möglicherweise dramatischen Überprüfung enthoben. Wer will hier oben schon ganz genau wissen, was mit einem los ist? Ändern könnten wir es nicht.

20.

Plötzlich ist der Gedanke wieder da. Er begleitet und beherrscht mich schon mein ganzes Leben lang und tritt jeweils nur bei ganz besonderen Gelegenheiten in den Hintergrund, dann nämlich, wenn mich ein Ereignis oder ein Engagement derart gefangen nimmt, dass darob andere Überlegungen in meinem Kopf keinen Platz mehr finden.

Der Gedanke geht so: Das Leben besteht aus Warten. Wir warten im Bauch der Mutter auf unsere Geburt, dann warten wir fünf- bis achtmal am Tag auf die Milch aus der Mutterbrust, während unsere Eltern auf unseren ersten Zahn, auf unsere ersten Schritte und auf unsere ersten verständlichen Worte warten. Wir wiederum warten darauf, bis wir endlich in den Kindergarten gehen dürfen, später zur Schule. Wir warten auf das Ertönen der Pausenglocke, auf den ersten Schulschatz und auf den ersten Kuss… – Wir warten, bis wir ins Bett gehen können, wir warten auf den Schlaf, wir warten am Montag auf den Freitag, wir warten am Wochenende, dass etwas Unterhaltendes passiert, wir warten, bis etwas vorbei ist oder bis endlich etwas Neues anfängt oder eintritt. Wir warten auf die Prüfungsresultate, auf den Führerschein, aufs Grün an der Ampel, wir warten am Schalter oder an der Kasse, bis wir unser Anliegen vorbringen oder unsere Rechnungen bezahlen können, wir warten auf die Quittung, wir warten – musikalisch begleitet – auf die Auskunftsperson am Telefon. Wir warten aufs Hochzeitsfest, aufs erste Kind, auf die Scheidung, auf Ferien, auf die Beförderung, auf die Koffer, aufs Glück, das uns so lange warten lässt, auf die Pensionierung, auf den Umzug ins Altersheim, auf den Tod… Wir warten auf die Abfahrt des Zuges und während der Fahrt auf dessen Ankunft. Es gibt Millionen, die täglich auf ein Stück Brot und einen Schluck Wasser warten, auf Frieden, auf eine Rückkehr in die Heimat. Wieviel Millionen Menschen sind beim Warten schon gestorben? – Alle.

Als ich Johns Zahnbürste versteckt hatte, warteten wir alle auf seinen Wutanfall und auf das anschliessende versöhnliche Abklingen dank Michelle. Doch nichts geschah. Alle Kameras waren eingestellt, die Schlafenszeit kam, und John verkroch sich in seine Koje, ohne auch nur eine Sekunde ans Zähneputzen zu denken. Wir gaben ihm mit geheimen Zeichen zu verstehen, dass jetzt laut Drama-Drehbuch seine Performance fällig wäre, rüttelten an seiner Lukentüre und fragten uns, wieso er plötzlich so launisch ist und unsere getroffenen Abmachungen ignoriert. Der Ground Control wurde nervös, die Fernsehzuschauer warteten. Vergeblich. John liess sich an diesem Abend nicht mehr blicken. Zur Ablenkung jonglierte ich vor den Kameras noch ein bisschen mit den Bällen, was nun wirklich keine Kunst darstellt, denn sie fallen ja nicht zu Boden.

Am nächsten Tag fragten wir John, was denn los gewesen sei.

Ich war nicht in der Laune, wütend zu sein und mit Michelle zu schlafen, antwortete er. Ich denke unentwegt an Anna.

Das machte uns betreten. Auch wenn dafür John einen Rüffel einkassieren wird, wurde mir John auf Anhieb sympathischer. Der Macho zeigte Gefühle und mochte fürs Publikum nicht den wütenden Macker spielen, der sich einzig durch eine Frau besänftigen lässt. Ich umarmte ihn dafür. Der Ground Control grollte.

– Wie weiter? schnarrte es von weit her.

Alles ok-lah liess sich Michelle vernehmen und behielt offen, ob sie von Johns Bekenntnis verletzt oder befreit fühlte.

– Der Vorfall verlangt nach einer Neuausrichtung unserer dramaturgischen Konzepte, folgerte der Ground Control blitzscharf.

So ist es, meinte José von hinten trocken, ohne von seinen Instrumenten aufzuschauen, derweil John an einem Biscuit knabberte. Er liess sorglos die Krümeln im Raumschiff umhertreiben und zeigte sich nicht so zerknirscht, wie man hätte annehmen können.

Ich tauchte in meine Bettluke ab und musste für eine Weile einfach grinsen.

Ja, das Warten verhilft einen zuweilen auch zu neuen Erkenntnissen und Neubeurteilungen von Situationen. Was, wenn alles so abgelaufen wäre wie geplant? Tage später wäre Michelle mit ihrer Eifersucht an der Reihe gewesen und dann José mit seiner störrischen Performance und ich mit meinem Weltraum-Koller. So aber haben wir durch vergebliches Warten eine gewisse Freiheit für die Gestaltung unseres Alltags erlangt. Die dort unten können uns mal. Ich bin John dafür sehr dankbar.

21.

Vater im Himmel. Ich komme dich besuchen. Wo steckst du bloss?Ich erinnere mich, wie dich die Engel eines Wintertages 1992 abholten. Es war kalt und schneebedeckt an diesem Morgen in St. Gallen. Ich nahm einen frühen Zug von Zürich her, nachdem ich von B. die Mitteilung erhalten hatte, du seist sanft entschlafen. Ich brachte ein paar Blumen mit und sah dich in deinem Bett friedlich ruhen. Frisch angezogen mit Anzug, Krawatte und einer Binde ums Kinn.Rechtsanwalt E. ohne Wut und Ärger, die sonst meine Besuche bei dir prägten. Keine Anschuldigungen, keine Beschimpfungen mehr der Kommunisten im Osten und der allzu nachgiebigen USA. Dein Triumph im hohen Alter war, dass diese Sauseckel von Kommunisten, wie du dich auszudrücken beliebtest, sich selbst aufgegeben haben. Sie erbrachten für dich damit den Beweis, aufs falsche Ross gesetzt zu haben, was du ja schon immer prophezeit und – noch mehr – gewünscht hast.Später kam noch meine Tante V. vorbei. Als sie dein Zimmer betrat, schluchzte sie stossweise, einer Sprudelflasche im Überdruck gleich, die man schnell wieder verschliessen musste, damit nicht der ganze Boden klebrignass wird. So etwas hatte ich meiner Lebtag noch nie gehört. Sie heulte mit Überdruck und zischend, dann war es wieder einen Moment lang ruhig. Dann sprudelte wieder ein kurzer Heulkrampf hervor, dann war es wieder still.

B. hingegen war die Würde selbst. Von dir während vieler Jahre gequält mit deinem hitzigen Wesen und deiner Hinfälligkeit, sass sie da, still und ruhig. Sie fragte mich, ob ich mit dem von ihr vorgesehenen Beerdigungsritual einverstanden sei: deinem Wunsch gemäss keine Todesanzeige, keine öffentliche Verabschiedung. Im kleinsten Kreise sollte von dir am Grab Abschied genommen werden.

Während des Tees läuteten die Männer vom Leichentransport. Sie standen vor der Tür mit dem Sarg. Ich wollte nicht zuschauen, wie man dich umbettete und aus der Wohnung trug. Ich hörte deine Schwester weiterhin stossweise sprudeln, das genügte mir. Dann klaubte ich aus meinem Portemonnaie etwas Trinkgeld für die Männer hervor, begleitete deinen Sarg vom 2. Stock nach unten und übergab es ihnen beim Leichenwagen.

Zwei Tage später standen wir an deinem Grab, wo du in deiner Kiste runtergelassen wurdest, begleitet von Gebeten und einer Bibellesung deines alten Freundes und Freimaurerbruders A. Wir waren zu fünft. Es schneite.

Seither habe ich deine Überresten im Schnitt jedes Jahr einmal besucht auf dem Friedhof. Mit jeweils einer einzelnen Rose in der Hand. Einmal wurde ich von meiner Mutter, die seit meinen Kindstagen nichts mehr mit dir anzufangen wusste, begleitet, da war es sie, die die Rose in den Händen hielt. Sie war weiss, daran erinnere ich mich noch genau.

Dann kam, es ist noch nicht so lange her, die Mitteilung der Friedhofsverwaltung, 20 Jahre seien jetzt vorbei, laut Gesetz hätte ich jetzt das Recht, dein Grab aufzuheben, was ich dann auch dankbar in Auftrag gab. Ich wüsste nicht, wer dich, ausser mir, noch besuchen gekommen wäre. Und jetzt bin ich ja selber unterwegs. Ich fliege dir nach. Wo hältst du dich auf? Wo verbirgst du dich? Warte nur, ich find dich schon!

22.

Geburtstagsgrüsse aus dem All. Heiss begehrt! Wir sind damit täglich für mehrere Stunden beschäftigt. Die Tarifstruktur geht vom vorgefertigten, unpersönlichen Gruss über den individualisierten Gruss mit Namensnennung bis hin zur Viererformation. Meine Grüsse sind etwas billiger zu haben als diejenigen von Michelle und John. Josés Tarif wiederum liegt etwas unter dem meinen. Weitere Aufschläge werden für einen Gruppen-Auftritt, für Purzelbäume, fürs Herzeigen unseres Strausses künstlicher Blumen und fürs Herbeischweben einer Geschenkbox mit Bluescreen erhoben. Auf diesem Bluescreen kopiert später der Ground Control von Zuschauern zugeschickte Videos oder Fotografien ein, was die Beschenkten zu begeistern vermag. Die Geschenkbox wird oft gewählt für die Abbildung eines Schmuckstückes, eines Haustiers oder einer Stadt. Aber auch Familienfilmchen mit gesungenen Happy Birthdays sind darunter, was wir gottseidank nicht anhören müssen, weil der Kopiervorgang erst auf Erden passiert, nachdem wir schon getan haben, was uns befohlen. Hinzu kommen gegen einen weiteren Aufpreis Geburtstagswünsche in einer der 48 Sprachen, die wir anbieten. Wir lernten bereits auf Erden ein paar Glückwunschsätze auswendig, welche allerdings der exorbitanten Preise wegen nicht so viel gebucht werden. Alle paar Tage müssen wir diese Sätze auffrischen und üben. Zum Beispiel

Urime Ditëlindja

জন্মদিনের অভিনন্দন

祝贺生日

– Onnittelut Syntymäpäivä

જન્મદિવસ અભિનંદન

…und so fort.

Einmal wünschte sich Heidi G. aus Sent, Unterengadin, einen Glückwunsch auf Rätoromanisch in der Annahme, ich als Schweizer könne ihr diesen Wunsch gewiss erfüllen, gilt es doch als unsere vierte Landessprache und ist auch auf unseren Banknoten präsent. Als sie vernahm, dass ich des Rätoromanischen unkundig bin und dass die Sprache auch nicht auf der Liste der 48 figuriert, nahm sie Kontakt auf mit der Lia Rumantscha, der Dachorganisation aller rätoromanischer Sprach- und Kulturvereine. Die Folge war eine Demarche beim Bundesamt für Kultur bis hinauf zum zuständigen Bundesrat mit der Forderung, das Rätoromanische als 49. Glückwunschsprache in die Liste aufzunehmen. Es soll darauf zu einem regen Schriftverkehr zwischen Bern und dem Ground Control gekommen sein, den ich aber im Detail nicht kenne. Floss Geld? Vorgestern erhielt ich jedenfalls einen Text und den Auftrag, die Glückwunschbotschaft auf Rätoromanisch zu verlesen, obwohl der Geburtstag schon lange vorbei ist, adressiert an Heidi G. aus Sent. Doch zehn Minuten darauf das Dementi. Ich hätte die surselvische Version erhalten, dabei befinde sich Sent ja auf Vallader-Gebiet. Bis dato ist die korrigierte Übersetzung und die dazugehörige Aussprachehilfe noch nicht eingetroffen. Ich glaube, wir verschieben die Glückwünsche besser um ein Jahr.

Als höchste Tarifstufe gilt alles plus Gesang, wobei ich unserem Happy Birthday gegenüber die grössten Vorbehalte habe. Es tönt so dünn und muss vom Ground Control jeweils mit Hall und Obertönen kräftig nachgebessert werden. Auf meinen Wunsch hin bekommen wir bald Gesangsstunden. Placido Domingo soll sich in absehbarer Zeit im Ground Control einfinden und mit uns das vierstimmig vorgetragene Happy Birthday und ein paar weitere Songs einüben. Ich freue mich darauf, auch wenn mir Cecilia Bartoli lieber gewesen wäre.

Bref – diese Grüsse sind momentan, neben den normalen Übertragungslizenzen, die Haupteinnahmequelle unserer Mission. Die günstigen täglichen Fragestunden hingegen dienen eher der Zuschauerbindung und weniger dem Generieren zusätzlicher Geldmittel.

23.

Wir haben Falter im Raumschiff. Falter, Käfer und auch ein paar Spinnen. Die letzteren sehe ich zwar nicht, deren Netze deuten aber auf ihre Existenz hin. Vermutlich hielten sich all diese Tierchen verpuppt hinter Schalttafeln versteckt und schlüpfen jetzt zwischen den Fugen der Panels hervor.Die Flügel der Falter sind ornamental gemustert und erinnern an Darstellungen des Andromena-Nebels. In der Mitte eines gesprenkelten Ovals pulsieren zwei helle Flecken, je nach Lichteinwirkung und Bewegung. Die Tierchen vollführen eine Art flashmob, bewegen sich synchron zuerst in die eine Richtung und dann in die andere, drehen loopings, landen auf unseren Bildschirmen und scheinen sich dabei gut zu unterhalten. Die Käfer wiederum brummen und zeigen sich desorientiert. Sie fliegen um die eigene Achse und stossen zuweilen auf eines der Spinnennetze, welche sie, seltsam genug, wieder wegspicken wie einen Ball, der vom Gitter eines Tennisschlägers in die entgegengesetzte Richtung weggeschleudert wird. Auf der Seite gegenüber treffen einige Käfer mit einer solchen Wucht auf die Kippschalter, dass sie den einen oder anderen von off zu on umzuschalten vermögen. Plötzlich erlischt das Licht. Dann dreht ohne mein Dazutun die Klimaanlage auf und der Wasserkocher beginnt zu simmern. Wo bin ich denn?Das kann gefährlich werden, schiesst es mir durch den Kopf. Wann wird sich der Ground Control melden und uns aufmerksam machen auf Unregelmässigkeiten bei der Steuerung? Ich warte auf eine entsprechende Meldung und studiere in der Zwischenzeit die Flügel der Falter etwas genauer, während im Hintergrund ab und zu ein weiterer Käfer mit einem trockenen Click auf eine Schalttafel aufschlägt.Die Flügel der Falter scheinen eine Art Miniaturkarten des Weltalls zu sein. Man kann sich in ihnen verlieren und sich vorstellen, wie auf einem Feld von wenigen Quadratmillimetern der ganze Kosmos abgebildet ist. Und weiter stelle ich mir vor, wie in anderer Dimension ein nicht mehr vorstellbar grosser Riese unseren realen Kosmos, so, wie wir ihn kennen, in Augenschein nimmt, der auf der Oberfläche eines unvorstellbar grossen Falterflügels Platz findet. Die Dimensionen verschwimmen, denn wir selber sind durch das Auge unserer Rastermikroskope auch Riesen, die auf kleinstem Raum neue Welten entdecken, die aus immer mehr energiebeladenen, faszinierenden Planeten, die wir Teilchen nennen, bestückt sind. José, der gegenwärtig schläft, ist darin ja ein Experte. Je leistungskräftiger die Beobachtungsinstrumente umso reichhaltiger die kartographische Ausbeute. Sie zeigt nichts anderes, als dass überall kosmologische Entsprechungen auf Entdeckungen warten. So fügt sich das eine zum anderen und wird zu einem vielgestaltigen unendlich Ganzen.

Und dann, als ob die Falter und Käfer gemerkt hätten, dass sie uns auf unserem Flug auch etwas stören, verkriechen sie sich wieder in ihre Behausungen, während die Spinnennetze vom Luftabzugsrohr verschluckt werden.

Ground Control: Alles klar dort oben? In einer halben Stunde sind wir auf Sendung. Nikolaus, es wäre gut, wenn du dich vorher noch etwas rasierst. Und kannst du José wecken, der ist heute auch dran. Danke.

– Roger. 

 24.

Ground Control: Nikolaus, wir haben ein Problem.– Ja? Was ist los?Wir verfolgen deine Eintragungen in den Last Words und sind zum Schluss gelangt, dass du zu negativ bist.– Zu negativ?

– Ja, du verbreitest eine Grundstimmung, die unserem Vorhaben nicht förderlich ist.

– Das kriegt ja niemand zu lesen!

– Doch, wir lesen deine Texte. Du scheinst depressiv zu sein.

– Ach wo, irgendwo darf ich ja wohl noch etwas Auslauf haben. Besser in den Last Words etwas Koller markieren als über den Äther.

– Deine Texte verraten, wie es um dich bestellt ist. Das hat Auswirkungen auf die Stimmung nicht nur im Raumschiff sondern auch bei den Zuschauerinnen und Zuschauern hier unten.

– Das müsst ihr mir erklären. Habt ihr einen Zuschauerschwund?

– Ja.

– Und daran soll ich schuld sein?

– Nicht nur du, aber du auch.

– Es ist vielleicht tatsächlich nicht jedermanns Sache, uns auf unserem langweiligen Weg ins Unbekannte ständig zu beobachten, auf unserem Weg ins Grab.

– Ihr fliegt nicht ins Grab, verdammtnochmal, ihr seid Pioniere und erobert den Weltraum. Ihr freut euch, im Dienste der Menschheit auf einem neuen Planeten Fuss zu fassen. Ihr seid weltberühmt. Plätze werden nach euch benannt werden und Statuen errichtet!

– Wir kommen nicht mehr zurück. Das darf nicht unterschätzt werden.

– Ausgerechnet du, Nikolaus, der als einziger seit Jahren predigt, dieser Flug sei eine echte Alternative zum Altersheim, aus welchem es schliesslich auch kein Zurück gibt!

– Im Altersheim bekäme ich ab und zu Besuch von ein paar Verwandten und Freunden, oder der Frauenverein würde ein Ständchen singen.

– Und jetzt bekommst du Besuch aus der ganzen Welt. Alle schauen dir zu, begleiten dich und stellen dir Fragen. Was für ein Privileg im Gegensatz zur Vereinsamung im Altersheim!

– Michelle, John und José müssen wesentlich mehr Fragen beantworten als ich. Ihr könntet mal dafür sorgen, dass ich auch einmal etwas sagen darf.

– Du bist ja richtig eifersüchtig.

– Ich fühle mich etwas einsam hier oben.

– Aber wir sind miteinander verbunden. Ihr habt eine eminente Bedeutung für uns.

– Aber es scheint, dass sich immer weniger dafür interessieren!

– Weil du für eine schlechte Grundstimmung sorgst!

– Der Mars ist noch verdammt weit weg.

– Aber er kommt näher. Jeden Tag. Und Milliarden schauen euch zu.

– Bald werden es nur noch Millionen sein…

– Wir müssen uns etwas einfallen lassen, nachdem John seinen Einsatz vergeigt hat.

– Ich könnte von den Faltern und Käfern berichten, wie ich das bereits in den Last Words hinterlegt habe.

– Um Gottes Willen, lass diese Falter und Käfer aus dem Spiel. Es schadet uns, wenn alle Welt sieht, wie du langsam den Verstand verlierst.

– Aber wir HABEN Käfer. Ich habe sie gesehen und gehört. Und die Flügel der Falter regen mich zu philosophischem Tiefgang an.

– DU hast Käfer, Nikolaus, nicht ihr. Uns wäre lieber, du hättest Schmetterlinge im Bauch.

– Das wünschte ich mir auch. Soll ich mich etwa in Venus verlieben? Die dreht hier oben auch irgendwo ihre Kreise.

– Das ist wieder dieser depressive Zynismus, den wir kritisieren. Genau das.

– Ich finde meine Antwort witzig.

– Aber sie ist nicht massentauglich. Sie provoziert Zweifel und nicht Begeisterung. Wir brauchen Begeisterung, Nikolaus.

– Ihr meint, ich muss zur Schublade 14 greifen?

– Es wäre ein Versuch wert. Einfach nicht mit Schublade 15 verwechseln!

– So eine Bemerkung ist auch nicht massentauglich, im Fall.

– Aber notwendig. Schublade 15 ist tabu. Ist das klar?

– Ok. Und was soll ich aus Schublade 14 schlucken?

– Wir haben uns bei Dr. Heartfield erkundigt, den Psychiater, den du auch kennst. Er empfiehlt als Anfangdosis von AD morgens und abends zwei Tabletten nach dem Essen.

– Und dann bin ich so fröhlich wie gewünscht?

– Wir brauchen deine Mithilfe. Unsere Lage ist nicht so gemütlich.

– Es genügt also nicht, sein Leben für die Fahrt auf den Mars zu opfern, ich muss dazu auch noch den fröhlichen Astronauten spielen?

– Das ist part of the game. Das weisst du. Teil unserer Abmachung.

– Mir stinkts.

– Bitte, Nikolaus, bitte.

– Und was hält ihr denn von den anderen? Bekommen die auch so eine Abreibung?

– Mit John haben wir gesprochen.

– Muss er sich auch aus der Schublade 14 bedienen?

– Nein.

– Bekommt er Viagra?

– Er muss endlich Michelle ficken.

– Schickt ihm Anna, dann wird alles gut.

– Er muss Michelle ficken, er hat keine Wahl.

– Armer John.

– Arme Michelle.

25.

John sucht das Gespräch mit mir.– Damals, als wir dich in der Schweiz besuchen kamen, hat doch dieser Typ ein Lied gesungen. Dieses Major Tom-Lied von David Bowie.– Ja, es ist wunderschön.– Kennst du eigentlich die Worte? Weisst du, wovon die Rede ist?

– Natürlich, wieso fragst du?

– Ich habe irgendwie das Gefühl, du hättest dieses Lied nicht gewählt, wenn du es wirklich verstanden hättest?

– Wie kommst du drauf?

– “Here am I floating round my tin can
Far above the Moon
Planet Earth is blue
And there’s nothing I can do.”

– Ja und?

– Der fliegt weg. Verloren im Weltraum! Das ist ein schlechtes Omen für unser Vorhaben.

– Bist du abergläubisch?

– Nicht abergläubisch, aber ich nehme Zeichen ernst.

– Das war kein Zeichen.

– Doch, das war eines. Sogar ein starkes. Und dass dieser Typ, dein Freund, Major Tom mit Major Nik ersetzt hat, bedeutet auch etwas.

– Du meinst, ich werde hier oben davonschweben wie dieser Major Tom, verloren im Weltraum mit der blauen Erde im Rücken?

– Nicht unbedingt du, aber er meint uns.

– Das ist erstens Kunst und zweitens eine Hommage an unseren Flug. Das ist alles.

– Das ist ein böses Omen.

– Blödsinn. Und geschehen ist geschehen. Miss dem keine weitere Bedeutung zu, ja?

– Ich kann den Vorfall doch nicht ungeschehen machen.

– Was schlägst du denn vor zu tun?

– Schwierig, was man tun kann in einem solchen Moment.

– Ein Ritual?

– Das hätte unmittelbar im Zusammenhang mit dem Anlass stattfinden müssen. Jetzt ist es zu spät.

– Wir könnten ja eine Strophe dichten, in welcher Major Tom nicht entschwebt sondern wieder auf die Erde zurück kommt.

– Aber wir kommen eben nicht mehr zur Erde zurück.

– Siehst du, das hat David Bowie schon richtig gesehen.

– Es gibt einen Unterschied, ob man einfach so ins All entschwebt oder ein Ziel vor Augen hat, in unserem Falle den Mars.

– Der Erde verlustig gehen wir so oder so.

– Im einen Falle werden wir betrauert, im anderen bewundert.

– Es wird Leute geben, die uns betrauern, selbst wenn uns die Landung auf dem Mars gelingt. Wir tun ihnen Leid, weil wir einsam sein werden und uns mit extremen Lebensbedingungen herumschlagen müssen.

– Hm. Ich sehe das anders.

– Natürlich siehst du das anders, sonst wärst du nicht dabei. Und ich versuche auch hin und wieder und auf Anraten des Ground Control, das anders zu sehen, auch wenn es mir manchmal schwerfällt.

– Zweifle nur. Das gibt uns die nötige Motivation, dagegen zu halten, du griesgrämiger, alter Mann.

Gönnerhaft klopft mir dabei John auf die Schultern. Ich glaube, in diesem Moment hat er seine Angst abgelegt und sich als unbestrittenen Kapitän unseres Raumschiffs gegeben. Wenn wir die Fahrt überstehen, dann wegen ihm, der es geschafft hat, trotz ungünstiger Zeichen unser Fahrzeug zum richtigen Ziel zu führen. Fehlt nur noch, dass er uns zu einem Captain’s dinner einlädt. In Uniform und so. Er beendet die Konversation auf seine Weise, bevor er wieder zu seinen Instrumenten hinübergleitet: Du glaubst gar nicht, wie geil ich bin in letzter Zeit…

3 Responses to “Mars 1-25”

    • Eliza

      Das Leben ist nicht nur eine Einbahnstrasse, sondern auch ein Nullsummen-Spiel. Man zahlt und gewinnt immer etwas – ob links oder rechts ist ziemlich egal. Ich liebe Ihre angenehm scharfsinnigen Beiträge. Habe leider die Anmeldefrist verpasst (shame on me), sonst hätte ich mich gerne unterhalten mit Ihnen. Auf dem roten Platen, dem Never-come back Land, nachdenkend, Gott etwas näher.
      Grüsse und viel Glück
      Eliza

      Antworten
  1. johanna

    Lieber Niklaus,

    Ich bin am Ueben, wie Krankes in GESUNDES GEWANDELT werden KANN
    danke für deine Anmeldung zum Mars. Sie zeigt auf, wie gesund unsere Wünsche in unserer Wirklichkeit sein können.Es tönt für mich wie Kreuzigung.
    Danke für die Suppeneinladung.Wenn ich dann bereits aus Muenchen zurück bin, komm ich gern zu Euch zu Besuch.LAss Ben auch von mir grüssen
    Johanna

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