Meine Tochter zeichnet gern — 1. Kapitel: eine Email-Korrespondenz

Sehr geehrter Herr Rektor. Meine Tochter zeichnet gern. Darf ich sie an Ihrer Kunstschule anmelden?

Sehr geehrter Herr M. – Wie alt ist denn Ihre Tochter? Braucht sie noch Ihre Unterschrift, weil sie minderjährig ist? Oder ist sie behindert? Oder wollen Sie sie einfach mit Zuvorkommenheit und Hilfsbereitschaft fördern und ermutigen, weil sie selber noch nicht so genau weiss, was sie aus ihrem Leben machen will? – Ich hoffe, Sie lesen aus meinen Fragen, was ich meine. Ich halte nicht viel von Ihrer Absicht, Ihre Tochter an einer Kunstschule anzumelden, und schon gar nicht an unserer. Sollte für Ihre Tochter tatsächlich eine künstlerische Ausbildung in Frage kommen, so muss sie den Weg dorthin schon alleine finden und sich einem Aufnahme-Verfahren stellen, wo sich sehr bald herausstellen wird, ob sie Talent hat.

Sehr geehrter Herr Rektor – Ihre ruppige Antwort überrascht und erstaunt mich. Ich habe Sie schon an Vernissagen reden gehört, und einmal wohnte ich einer Diplomübergabe bei, als eine Nichte von mir bei Ihnen abgeschlossen hat. Dort gewann ich den Eindruck, dass Sie ein netter und fürsorglicher Schulleiter sind und nicht so abweisend und despektierlich, wie Ihre Antwort jetzt den Anschein erweckt. Meine Tochter ist weder behindert noch minderjährig, sie kann einzig ihr Talent noch nicht richtig einschätzen und überlegt sich, ob es für ein Kunststudium reicht, oder ob sie vielleicht zuerst Lehrerin werden soll. Was ist daran so schlecht? Ich denke, Zweifel, die es zu überwinden gilt, sind doch allemal ein besserer Ratgeber als Selbstüberschätzung, bei welcher man früher oder später auf die Nase fällt.

 Sehr geehrter Herr M.  –  Gestatten Sie, dass ich unterscheide. Der Lehrberuf auf der einen Seite beschäftigt sich mit der Sozialisation junger Menschen durch Vermittlung eines staatlich approbierten Lehrplanes. Kinder bekommen im Laufe ihrer Jugendjahre einen Rucksack voller nützlicher Dinge eingeplackt. Dieser soll ihnen am Ende der Schulzeit ermöglichen, auf anständige, sinnvolle und beruflich erfolgreiche Art durchs Leben zu gehen. Man lernt in der Schule, was man darf und was man besser lassen soll. Man lernt rechnen und schreiben und lernt somit unterscheiden, was richtig und was falsch, was normal und was abnormal ist. Das Strafmass, das denjenigen blüht, die über die Stränge hauen oder morgens immer zu spät kommen, beherrscht die Diskussion im Lehrerzimmer. Ihre Tochter ist also gut beraten zu überprüfen, ob sie sich in solchen Dingen gern und leidenschaftlich einbringt, bevor sie einen pädagogischen Beruf wählt, sonst landet sie als Erzieherin und Lehrstoff-Vermittlerin schon bald einmal in einer Sinnkrise, fühlt sich mit fünfunddreissig ausgebrannt und besinnt sich bestenfalls darauf, dass es höchste Zeit sei fürs Heiraten und Kinder Bekommen.

Das Gegenprogramm zum schulobligatorischen Wertekanon pflegen wir bei Gestaltung und Kunst. Hier wird das Gegen-den-Strom-Schwimmen geübt. Bei uns gehört das Über-die-Stränge-Hauen mit dem Risiko, dabei auf die Nase zu fallen, zum Pflichtprogramm, zur Wahl der Ausbildung und des Berufs, den man später auszuüben beabsichtigt. Bei uns bewegt man sich auf der Achse zwischen Selbstüberschätzung und Scheitern. Die Auswahl von Bewerberinnen und Bewerbern erfolgt präzis dieser Linie entlang. Wir nehmen die, bei denen wir ein kreatives Potential vermuten und die auch den Mut und die Kraft aufbringen, zu scheitern.

Der Zweifel ist inhärenter Bestandteil dieses Berufsstandes. Er befindet sich in der Hierarchie der Gefühle nicht als Katastrophe ganz zuoberst, sondern auf einer alltäglicheren Ebene. Wir nennen den Zweifel auch nicht unbedingt so. Begriffe wie Widerborstigkeit, Widerstand, Infragestellung, Eigensinn treffen das, was wir einverlangen, besser. Darin ist der Zweifel enthalten, mündet aber im Normalfall nicht in eine depressive Stimmung sondern in den Mut der Verzweiflung, der zu einer Handlung auffordert. Wir fördern den Zweifel an vorschnellen Lösungen, wir stellen infrage, was die Selbstüberschätzung zustande bringt, und die Studierenden müssen damit rechnen, mit ihrer Arbeit Schiffbruch zu erleiden. Deshalb ist Zweifel bereits beim Entwurf eine nie enden wollende Kraft des kreativen Prozesses. Wer aber zweifelt, ob er an einer Kunstschule am richtigen Ort ist, gilt schon als verloren, wenn ich das einmal etwas plakativ in den Raum stellen darf.

 Sehr geehrter Herr Rektor. – Ihre Ausführungen haben mich veranlasst, auf Ihrer Website nachzuschauen, wie es sich mit Ihren Ausbildungsgängen genau verhält. Zu meinem nicht geringen Erstaunen konnte ich feststellen, dass Sie ja selber auch pädagogische Ausbildungen anbieten. Lehrberufe für bildnerisches Gestalten, früher Ästhetische Erziehung, bei Ihnen auch Kunst und Vermittlung genannt. Wie bringen Sie diese Ausbildungsgänge zusammen mit Ihrer anarchistisch anmutenden Forderung nach Widerborstigkeit? Mit einer solchen Ideologie verbauen Sie doch jedem Zeichnungslehrer, der bei Ihnen abschliesst, seine Zukunft. So einer wird doch nicht an einer öffentlichen Schule angestellt!

Sehr geehrter Herr M. – Ihre Beobachtung ist insofern richtig, als wir auch Lehrerinnen und Lehrer für bildnerisches Gestalten ausbilden, die später in einem Umfeld ihre Arbeit verrichten, die mehr von konventioneller Pädagogik geprägt ist als von dem, was unsere eigenen professionellen Erkenntnisziele sind. Ich denke aber, es muss für intelligente Menschen zumutbar sein, gewisse Zielkonflikte unter einen Hut zu bringen. Das tun wir alle, um unser Geld zu verdienen. Sollen wir deswegen unsere Ausbildungen in ihrer Radikalität abschwächen, nur damit der Graben zwischen der stufengerechten allgemeinen Pädagogik und der künstlerisch-gestalterischen Fachkompetenz kleiner wird? Ich denke, wir würden unseren Studierenden, die Lehrer werden und gleichwohl liebäugeln mit einer künstlerischen Karriere, einen Bärendienst erweisen, wenn wir sie von einer radikalen Ausbildung entbänden und für sie ein sanfteres Curriculum vorsähen. So sind sie immerhin vertraut mit existentiellen Erfahrungen in Kunst und Gestaltung. Wieviel sie dann davon im Schulunterricht anwenden, ist ihnen selber überlassen. Unsere pädagogischen Module hier an unserer Hochschule weisen jedenfalls auf den Umstand hin, dass unsere Kandidaten später auf Schülerkohorten treffen werden, die nicht unbedingt Künstler oder Designer werden. Wer dann aus ihnen gleichwohl kleine Tinguelys oder Picassos machen will, wäre selber schuld und hätte sich wohl zuviel vorgenommen. Doch nicht wenige der Zeichen- und Werklehrer, die draussen an der Bildungsfront während mehrerer Jahre ihre Arbeit verrichtet haben, kehren später als Dozierende an unsere Hochschule zurück oder mausern sich, einer typisch innerschweizerischen Tradition folgend, zu hervorragenden Künstlerinnen und Künstlern.

Im übrigen bin ich der Meinung es tue dem Lehrkörper einer Mittel- oder Sekundarschule nur gut, wenn dort nicht alle Pädagogen über den gleichen Kamm geschert worden sind. Es ist die Vielzahl von Auffassungen, die pädagogisch von Bedeutung sind, sie sind keine Unité de Doctrine.

Aus unserer Sicht ist wichtig zu wissen, dass das, was an künstlerisch-gestalterischem Wirken in den Mittelschulen stattfindet, mit dem State of the Art auf diesem Gebiet nicht viel zu tun hat. Ähnlich wie in der Physik, wo im Mittelschul-Unterricht immer noch die von Galilei, Descartes und Newton geprägte Festkörper-Physik einer materienorientierten Welt vermittelt wird mit einem Atom im Zentrum und mit der Schwerkraft von Sonne, Mond und Sternen, während wir eigentlich schon seit über einem halben Jahrhundert wissen sollten, dass kleiner als das Atom ein Kosmos zugange ist und uns zusammenhält, der von der Quantenphysik erschlossen und beschrieben wird und besagt, dass im Innersten unserer Welt gar keine Masse mehr ausfindig gemacht werden kann sondern nur noch rasend schnell miteinander kommunizierende, massenlose Nichtse, die entlang von längst noch nicht ganz erschlossenen Strukturen und in wechselseitiger Instabilität relative Stabilität erzeugen. Wenn sich also eine so exakte Wissenschaft erlaubt, immer noch verstaubtes Wissen ihren Schülerinnern und Schülern zu vermitteln, weil sie – zu Recht – zur Ansicht gelangt, die moderne Physik wäre wohl für 99,98 Prozent der Fünfzehnjährigen eine Zumutung und in der zur Verfügung stehenden Zeit nicht vermittelbar, so ist es doch lässlich, auch in der Kunst Farben, Formen und Materialien zu frönen, die letztlich nicht viel zu tun haben mit dem, was draussen an aktueller Kunst abläuft. Man muss einfach wissen, wofür diese Aktivitäten im Schulunterricht stehen und nicht meinen, damit Kunst auf Mittelschulstufe produziert zu haben. Künftige Designer und Künstler wachsen also nicht unbedingt dort heran, wo man sie auf den ersten Blick vermutet, und schon gar nicht an einem musischen Gymnasium, wo alle die zu landen scheinen, die es sonst zu nichts bringen. Der Begriff „Schonklima“ wäre für das, was dort abgeht, schon treffender. Dabei brauchen wir, wie ich bereits in einem früheren Email ausgeführt habe, im künstlerisch-gestalterischen Bereich Leute, die sich im Wettbewerb, in der Auseinandersetzung bewähren und nicht im Ghetto einer abgeschotteten, schönfärberischen Kunstwelt.

Sehr geehrter Herr Rektor. – L’appétit vient en mangeant. Sie stellen sich mit Ihren ausführlichen Emails insofern eine Falle, als sie mich anstacheln, weitere Fragen zu stellen in der berechtigten Hoffnung, darauf noch mehr Emails zu bekommen. Für mich immer noch nicht klar ist der Sinn des Kunstunterrichts auf der Mittelschulstufe. Ihre Ausführungen lassen durchblicken, dass Sie daran Zweifel haben. Und: wieso wird denn Kunstunterricht an den Schulen betrieben, wenn diese Kunst mit der „richtigen Kunst“ nichts gemeinsam hat?

 Sehr geehrter Herr M. – Musischer Unterricht in den Mittelschulen soll darauf hinweisen, dass es noch andere Welten gibt als Mathematik, Turnen und Französisch. Hingegen wehre ich mich gegenüber der gut gemeinten Propaganda, die behauptet, das Musische sei für die Entwicklung der emotionalen Intelligenz unentbehrlich. Es gibt sogar Fürsprecher des Musischen, die sich auf die fragwürdige Beweisführung versteifen, künstlerisch-ästhetische oder musikalische Beschäftigung erweitere die graue Gehirnmasse, weil sie brachliegende Gehirnteile aktiviere. Diese Behauptung halte ich angesichts all der angehenden Künstler, denen ich hier draussen vor meiner Bürotür auf dem Flur begegne, für schlichtweg falsch und dumm, weil sie letztlich unserem Geschäft schadet. Denn plötzlich wird die Fallhöhe zwischen dieser idealisierenden Behauptung und den real lebenden Künstlern zum Thema. Dabei sind Kunstschaffende oft nicht einmal imstande, einen grammatikalisch oder orthographisch richtigen Satz zu schreiben, geschweige denn anständig und verständlich über ihre eigene Kunst zu sprechen. Gleichwohl bereichern sie mit ihrer Kunst unseren Alltag. Sie aber grad zu Repräsentanten einer höheren und smarteren Welt hinzustellen, ist relativ kühn. Auffällig ist lediglich, dass Künstler unentwegt getrieben sind von Ideen, die es so noch nicht gibt, und von der Frage, wie man sie realisieren könnte. Das macht der Durchschnitt der Bevölkerung wohl in diesem Ausmass nicht.

Für mich wichtig ist aber etwas anderes, das ich  in den Raum stellen darf. Das Geschäft mit der Ästhetik und der Kreativität ist nicht allein den Künstlern, Musikern, Schauspielern, Tänzern und Designern vorbehalten. Einmal ganz abgesehen von dem Teil des Kunstschaffens, der sich bewusst gegen den ästhetischen Kanon auflehnt und Dinge in unser Blickfeld rückt, die ästhetische Qualität gerade entbehren (es gibt nicht wenige, die sich dieser Art von Kunst verschrieben haben). Also einmal abgesehen von diesem Teil künstlerischer Ausdrucksformen, die den ästhetischen Kanon mit ihrer Kunst provozieren und Grenzen sprengen zu „Unschönem“ hin, wage ich zu sagen, dass auch viele kreative Mathematiker und Sprachlehrer ihre Fächer mit ähnlichen künstlerisch-ästhetischen Kriterien bewirtschaften wie Künstler das ihre. Und auch der Sport lebt zum grossen Teil von der Ästhetik und von der Eleganz, vom Bedürfnis nach formvollendeten Abläufen, die zu guten Resultaten und hoher Beachtung führen. Leider werden Sportler nicht zur Domäne der Kunst gezählt.

Aber auch bei uns im Management erfahre ich immer wieder, dass auch dort eine gewisse Ästhetik am Werk ist, wie sie von Designern und Künstlern verstanden und beansprucht wird. Wie gestalte ich zum Beispiel ein anregendes Anstellungsgespräch? Wie spreche ich eine unangenehme Kündigung aus? Wie führe ich durch eine Präsentation? Wie verfasse ich einen Bittbrief? Eine Absage? Oder: wie begleitet man einen Meinungsbildungsprozess? Wie interpretiert man Budgetzahlen? Oder: Wie entwickeln wir ein neues Corporate Design oder eine bündige Strategie? Wie kommunizieren wir mit der Belegschaft? Wie gehen wir mit der Förderung des einzelnen Mitarbeiters um? Alle Wie-Fragen suchen ihre Antwort in einer adäquaten Ästhetik. Eine situativ stimmige Performance vermittelt dann die beste Antwort darauf.

In meinem Kerngeschäft als Schulleiter zum Beispiel bin ich pausenlos beschäftigt mit der Planung von Vorhaben unter Zuhilfenahme von Intuition, Innovation und Kreativität, alles Dinge, die Künstler und Gestalter zu ihrem Kerngeschäft zählen. Das beweist, dass Künstler mit ihrem Metier gar nicht so allein sind, wie sie es selber für sich und ihre Zunft gerne in Anspruch nehmen. Bei uns im Management sind wir allerdings einer Erfordernis ausgesetzt, die mir selbst zu schaffen macht: dass nämlich, einmal entschieden, Entscheidungs- und Kommunikationsabläufe immer nach demselben Muster stattfinden sollten. Ist einmal ein Corporate Design gefunden, sind einmal die Formulare für dies und jenes entworfen, ist ein Kommunikationskonzept einmal abgesegnet, so soll von jetzt an in dieser festgelegten, berechenbaren Form gelebt werden. Ein stabiles Management-System vermittelt Beheimatung und ist also gegenüber dem Flüssig-Ästhetischen innovationsfeindlich.

Also gibt es zwischen der Kunst und dem Management gleichwohl Unterschiede. Das ist auch gut so. Kunst ist nach meinem Selbstverständnis unstabil und verlangt immer wieder nach neuen Lösungen. Dazu kommt, dass es bei der Kunst im Idealfall keinen Auftrag gibt. Künstler verstehen sich generell nicht als Auftragnehmer. Sie bestimmen gerne selber, was ihr Auftrag ist. Das kann ich natürlich von meinem Job und von den meisten Jobs, bei denen man für die Erfüllung von Aufträgen auch gutes Geld verdient, nicht behaupten. Da stehen immer Leistungserwartungen im Raum, die nach Erfüllung rufen. In diesem Sinne gehöre ich, wenn man den Vergleich zwischen Gestaltern und Managern noch etwas weiter treiben möchte, eher zur Gattung der Designer als zu derjenigen der freien Kunst, weil ein Designer mehrheitlich in auftragsähnlichen Situationen sein Geld verdient. Natürlich gibt es auch unter den Kunstschaffenden Auftragnehmerei, und das ist niemandem zu verargen, denn oft ist die Kunst ein ziemlich brotloses Unterfangen. Wer aus eigenem Antrieb ein Bild malt, kann noch nicht davon ausgehen, dass es sich auch verkauft. Es gibt kein Anrecht, als Künstler überleben zu dürfen. Künstler bewegen sich vielmehr in frühkapitalistischen Verhältnissen. Malochen wie wahnsinnig und verdienen nichts. Deshalb gibt Künstler, die sich, wenigstens temporär, in den Dienst irgendeiner Propaganda stellen und Werke realisieren, welche das Prestige einer bestimmten Machtgruppe oder Unternehmung erhöhen und diese erst noch als künstlerische Wohltäterin in ein gutes Licht stellen, was in solchen Kreisen die Reputation durchaus erhöht. Kunst am Bau zum Beispiel, oder in totalitären Ländern die Darstellung von Machthabern. Es gibt aber auch Künstler, die mit ihrer Kunst anklagen und ein Manifest in die Welt setzen wollen. Auch das ist eine Art Propaganda. Bei uns sind solche Dienstleistungen eher verpönt. Die Kunst, wie wir sie hier als mögliche Lebensform vermitteln, soll zunächst einzig Ausdruck des Künstlers selbst sein. Das ist auch ein pädagogisches Konzept. Denn nur diese primäre existentielle Erfahrung, so meinen wir, diese Einsamkeit und der Selbstauftrag können die Kräfte mobilisieren, die jemand braucht, um als Künstler seinen Weg zu gehen. Dieser Selbstauftrag ist denn auch das, was Aussenstehende am meisten irritiert, dieses zunächst sinnlose künstlerische Tun, dieses sture Verhaften beim Oberflächlichen, wo es nur um die Wahl der Materialien, der Farben und der Formen geht und um nichts anderes, und wo ein Künstler sich im Idealfall auch standhaft weigert, irgendwelche Erklärungsversuche nachzuliefern und allfällige Rätsel aufzuschlüsseln. Künstler versuchen vielmehr darauf zu vertrauen, dass sich Tiefsinniges und Bedeutungsvolles ihrer Kunst durch Wahrnehmung und Interpretation anderer von alleine einstellen.

„Nachhilfe“ in Form von Erklärungsversuchen durch den Künstler selber jedoch, welche Absicht hinter einem Kunstwerk stecken könnte, ist dem Künstler primär peinlich, weil damit ein Eingeständnis seines Unvermögens einhergeht, ein für sich selber sprechendes Kunstwerk geschaffen zu haben, beziehungsweise eines, das einlädt, sich mit ihm in Sinn gebender Weise zu beschäftigen. In seiner Auffassung ist also jeder eigene Erklärungsversuch eine Entwertung dessen, was er zu schaffen versuchte.

Sehr geehrter Herr Rektor – Ihre Ausführungen vermitteln mir viel Einblick in die Wertewelt Ihrer Schule. Sie kommt mir vor wie ein ständiges Ringen und Zweifel mit sich selbst. Wieso führen Sie denn ein Fach, das Kunst und Vermittlung heisst, wo Künstler geradezu gezwungen sind, sich mit der Vermittlung ihrer Werke zu beschäftigen?

Sehr geehrter Herr M. – Vielleicht erinnern Sie sich nicht mehr an mein Email, wo ich Ihnen zu erklären versuchte, dass wir auch Lehrerinnen und Lehrer ausbilden, die sehr wohl imstande sein müssen, über Kunst zu sprechen. Auch wenn ich den freien Künstler vielleicht etwas allzu idealtypisch als sprachloses Genie skizziert habe, so fördern wir durchaus auch einen Typus von Künstlern, der über intellektuelle und verbale Fähigkeiten verfügt. Ob er diese dann fürs eigene Werk verwendet oder in einer Vermittlungssituation, ist ihm selber überlassen. Es gibt heutzutage so viele unterschiedliche Strategien, sich als Künstler zu positionieren, wie es selber Künstler gibt. Als Schule müssen wir darauf schauen, dass sich Künstler den unterschiedlichsten Situationen gegenüber gewachsen fühlen. Unsere Fachhochschulen sind dazu da, jemanden berufsfähig zu machen. Zur Berufsbefähigung sowohl eines Künstlers wie eines Kunstvermittlers gehört unter anderem und im Normalfall auch er Einsatz der Sprache…

Aber was verhandeln wir da? 99 Prozent der Menschheit kommt sehr wohl durchs Leben, ohne sich je mit einem Kunstwerk beschäftigt zu haben…

Sehr geehrter Herr Rektor – Wieso so pessimistisch? Wie viele Leute, die sonst mit Kunst nichts am Hut haben, besuchen auf ihrer Ferienreise einmal eine Kirche oder ein Museum oder lassen sich vor einem Monument ablichten. Viele lassen sich auf einen Strassenmaler ein, der mit seiner Spritzpistole Sonnenuntergänge feilbietet. Das ist für die Betrachter auch Kunst. Ich würde das nicht so eng fassen.

Sehr geehrter Herr M. – Wir haben da ein kleines Distinktionsproblem. Diejenigen, die sich bei uns um den guten Ruf der Kunst bemühen, halten ein paar Ihrer Beispiele nicht für Kunst. Sonnenuntergänge und röhrende Hirsche haben es in unserem System schwer, für sich den Status von Kunst in Anspruch zu nehmen, selbst wenn Käufer und Verkäufer eines solchen Objekts an diese Kunst glauben. Wir befinden uns da in einem sehr feingliedrigen Geflecht von Definitionen, Zuschreibungen und Abgrenzungen, welches nach einer grösseren und vertiefteren Auseinandersetzung verlangt und wohl nie zu einem definitiven Ende führen wird. In der Tat gehört die Debatte, was denn Kunst überhaupt ist, zum inhärenten Bestandteil der Kunstwelt, vor welcher auch ich mich bis zu einem bestimmten Grade verbeuge, indem ich in meinem Büro keine Bilder von chinesischen Dschunken bei Sonnenuntergang hängen würde, selbst wenn ich an ihnen Gefallen fände, was aber – Gott sei Dank – nicht der Fall ist. Es sei denn, ich sei eine unangefochtene Autorität auf diesem Gebiet. Die Definitionsherrschaft, was denn überhaupt zur Kunst gezählt werden kann, gehört in diesem Metier zu den delikateren Verhandlungsprozessen überhaupt und wird von Meinungsführern und ihren Cliquen vorangetrieben, die immer mal wieder auf Entdeckungen aus sind und den künstlerischen Kosmos neu ordnen wollen. Dieser Diskurs der Ausschliessung und Einschliessung und der Einflussnahme ist ein permanenter und auch ein ziemlich volatiler Prozess zwischen Sammlern, Kunsthändlern, Kunstkritikern, Konservatoren, Kuratoren, Künstlern und Professoren. Man will sich damit gesellschaftlich und prestigemässig positionieren, Zugehörigkeiten und Distanz schaffen, indem man sich einer Richtung verschreibt, einer Wertehaltung, einer Community. Darüber liessen sich dicke Bücher schreiben und sind auch schon geschrieben worden, sehr geehrter Herr M. Sie finden sie in unserer Bibliothek. Ich aber bitte Sie jetzt um Verständnis, dass ich mich nicht mehr auf einen weiteren Email-Verkehr mit Ihnen einlassen kann, weil mir schlicht die Zeit dazu fehlt.

Sehr geehrter Herr Rektor –Vielen Dank für Ihre Ausführungen. Ich habe alles Verständnis für Ihre Grenzsetzung und versuche auch, Ihnen nicht weiter zur Last zu fallen. Bei der Lektüre Ihres letzten Emails ist mir allerdings plötzlich der Gedanke gekommen, ob sich unsere Korrespondenz mit Blick auf eine mögliche Publikation nicht noch etwas anreichern liesse. Ich jedenfalls bekomme durch Ihre Antworten interessante Einblicke ins Wesen der Kunst und der Kunsterziehung und ich könnte mir vorstellen, dass es anderen auch so ergeht. Sie haben mit Ihren Zeilen in mir eine gewisse Widerborstigkeit geweckt. Ich will nicht so schnell beigeben und versuche in Übereinstimmung mit Ihrer Wertewelt hartnäckig zu bleiben in der Hoffnung, Sie könnten meinen Überlegungen einen gewissen Reiz abgewinnen und mit mir den begonnenen Dialog fortzusetzen.

 Sehr geehrter Herr M. – Hartnäckigkeit in Ehren, aber was wollen Sie denn jetzt von mir  noch wissen? Ich meine das Wichtigste gesagt zu haben, und dies, ich weiss es, auf eine denkbar undiplomatische Weise und nicht bedenkend, was Sie alles damit anstellen könnten. Sei’s drum. Nur um des Kontaktes Willen zu korrespondieren, rechtfertigt die Zeit, die ich dafür verwenden müsste, nicht. Ich bitte Sie also, unseren kleinen Email-Austausch für abgeschlossen zu betrachten. Und Ihrer Tochter wünsche ich zur klugen Wahl eines ihr passenden Studiums alles Gute.

Sehr geehrter Herr Rektor – Ich hatte übers Wochenende mit meiner Tochter eine heftige Auseinandersetzung. Sie war ungehalten, als sie erfuhr, dass ich mit Ihnen korrespondiere. Sie dachte wohl, ich würde versuchen, ihr einen förderlichen Boden zu bereiten für eine gute Aufnahme an Ihrer Schule. Ich versuchte ihr daraufhin klar zu machen, dass dies weder meine Absicht war und ist und wenn es so wäre, ich ihr mit meinem Vorstoss bisher eher geschadet hätte. Das beruhigte sie dann ein wenig. Sie bat mich aber, von weiteren Interventionen abzusehen. Bitte betrachten Sie also meine Zeilen nicht als Zeichen einer beabsichtigen Vorteilnahme sondern eines ehrlichen Bemühens, für meine Tochter Klarheit zu schaffen in einer familiär etwas vertrackten Situation, und einen Beitrag zu leisten für ihre Zukunft. Sie müssen wissen, wir Eltern sind geschieden. Meine Tochter lebt, zusammen mit zwei weiteren Geschwistern, bei ihrer Mutter, kommt mich aber regelmässig besuchen. Und ich versuche im Rahmen des gerichtlich Festgelegten ein besonders guter Vater zu sein, vermutlich aus einem gewissen Schuldeingeständnis heraus, die schwierige familiäre Situation mitverursacht zu haben. Wie Sie sehen, gelingt mir das scheinbar nicht immer…

 Sehr geehrter Herr M. – Ihre Zeilen sind lange unbeantwortet liegen geblieben, weil ich mich eigentlich daran halten wollte, Ihnen nicht mehr zu schreiben aus Gründen, die ich Ihnen in meiner vorangegangenen Korrespondenz versucht habe darzulegen. Doch das nochmalige Durchlesen Ihres letzten Emails hat mich irgendwie in eine gerührte Stimmung versetzt, weil es Einblick gibt in familiäre Konstellationen und Kräfteverhältnisse, die bei Entscheidungen eine nicht zu unterschätzende Rolle spielen.

Was Familienverhältnisse angeht, so sind wir hier an der Schule jedoch eher mit sogenannten Kampfeltern konfrontiert, die nicht verstehen wollen, wenn ihr Töchterchen oder ihr Söhnchen durch die Abschlussprüfung rasselt oder ein Jahr wiederholen muss. Auch sie wollen besonders gute Eltern sein. Ihre Aktionen lassen einen tief in innerfamiliäre Kräfteverhältnisse blicken.

Dabei müssen Sie wissen, dass ich auf eine bestimmte Versagerquote sogar bestehe. Sie soll mehr oder weniger der Gauss’schen Glockenkurve entsprechen. Es können nicht alle Genies sein, die unsere Schule verlassen, auch wenn wir zu Beginn unserer Ausbildungszeit schon aussieben und nur die unserer Ansicht nach besten aufnehmen. Aber diese Kurve konstituiert sich im Rahmen eines Jahrgangs immer wieder neu und erzeugt wieder Gute und eben weniger Gute allerdings auf – hoffentlich – auf höherem Niveau.

Vom unternehmerischen Standpunkt aus ist eine gewisse Versager-Quote eines der besten Marketing-Mittel. Sie belegt den Ruf, eine strenge Ausbildung anzubieten, die zu bestehen nicht leicht ist. In Kombination mit unseren bemerkenswert schwierigen Eignungstests und Aufnahmeverfahren sichern wir uns damit eine gute Reputation in der Ausbildungslandschaft. Unsere Studierenden müssen sich, ich wiederhole mich, zu jedem Zeitpunkt anstrengen und beweisen. Es herrscht ein Wettbewerb, der sich in beachtlichen Leistungen niederschlägt, auf die wir dann alle stolz sein dürfen.

Was also von der Natur einer Kunsthochschule her imageprägend und förderlich ist, ist natürlich für manche Betroffene ärgerlich.

Sehr geehrter Herr Rektor – Ihr letztes Email, für das ich Ihnen danke, entbehrt nicht eines gewissen Zynismus. Für Sie sind Studierende Quotenträger, die letztlich nur fürs Image Ihrer Schule eingesetzt werden und in dieser Funktion wichtiger scheinen denn als Auszubildende. Und dann nennen Sie betroffene Familienangehörige „Kampfeltern“, ich glaube, sie hätten für ihren Einsatz eine bessere Bezeichnung verdient.

 Sehr geehrter Herr M. – Aus der Optik der Schulführung versuche ich einzig und allein die Interessen der Studierenden, an einer hervorragenden Institution studieren zu wollen, umzusetzen. Eine Bildungsinstitution hervorragend nennen zu dürfen, fusst aber auf bestimmten Kriterien, deren Erfüllung sich später in Positionen auf Rating-Skalen niederschlagen, und die weiss Gott nicht auf meinem persönlichen Mist gewachsen sind sondern sozusagen zum Selbstverständnis von Qualität gehören und von Experten und Akkreditierungsbehörden geteilt und unterstützt werden. Dazu gehört eben auch, dass bei uns keine geschützte Werkstätte herrscht sondern Qualität sich auf Grund von harter Arbeit, hohen Ansprüchen und viel Wettbewerb einstellt. Und beim Wettbewerb gibt es Gewinner und Verlierer, wieso sollte das in einem künstlerisch-gestalterischen Milieu nicht so sein wie an einer Ingenieurschule oder bei denen, die Wirtschaft studieren? Wir unterstehen derselben Gesetzgebung und sind auf Grund unserer Leistungen anerkannt und finanziell unterstützt und nicht auf Grund kulturellen Mitleids. Gerade gegenüber den Steuerzahlern und dem Parlament scheint es mir wichtig, dies hervorzustreichen, weil dort immer wieder die Meinung die Runde macht, Künstler und Gestalter seien Faulenzer und würden es zu nichts bringen. Leider trägt der Volksmund zu diesem Vorurteil kräftig bei, wenn man jemand Speziellen, Eigenartigen als Künstler bezeichnet. „Du bist mir ein Künstler“ sagt man dann, oder wenn jemand um elf Uhr morgens verschlafen auftaucht, so sagt man halb belustigt und halb verärgert, aber immer herablassend: „Er ist halt Künstler“. Natürlich ist nicht von der Hand zu weisen, dass Gestalter vielleicht einem weniger bürgerlichen Tagesverlauf frönen, aber das hat doch nichts mit den erwartbaren Leistungen zu tun. Wir sitzen lieber dem Vorurteil auf, dass einer, der morgens um halb acht schon an seinem Pult sitzt, seriös sei und dementsprechend seine Leistungen erbringe und es deshalb verdient hätte, abends um fünf seinen Computer abzustellen. Die Krawatte bei den Herren oder bei den Damen das adrette Deux-Pièce signalisieren die Leistungsbereitschaft solcher Personen und schieben einem möglichen Zweifel an deren qualitativer Performance einen Riegel, während die „Künstler“ ihrem Wesen nach offensichtlich andere Signale aussenden. Wir verwechseln gern Lebensart und Erscheinen mit tatsächlich erbrachten Leistungen, wir werden also von unserem Eindruck getäuscht, vielleicht verstehen wir auch nicht so ganz, was diese Kunst soll. Mir ist es als einem Repräsentanten von künstlerischen Ausbildungen jedenfalls ein Anliegen, dass sich unsere Schule als Leistungserbringerin auszeichnet und nicht als Asyl Gottesgnad, auch wenn bei uns ausser mir wohl kaum jemand eine Krawatte trägt. Soviel zum Image und zum Recht der Studierenden, an einer ausgezeichneten Schule ihre Ausbildung zu geniessen.

Was die in meinem letzten Email erwähnten Kampfeltern angeht, so darf ich einschränkend sagen, dass nicht alle zu Kampfeltern werden, deren Nachwuchs Leistungsschwäche zeigt. Viele bleiben stumm und kommen vielleicht zur Einsicht, dass es bei ihren Sprösslingen nicht für die Kunst gereicht hat, oder dass eine Krise eingetroffen ist, die nach einer Überwindung verlangt. Ich weiss es nicht, sie machen sich ja nicht bemerkbar. Kampfeltern jedoch lassen mit Eingaben von Rekursen von sich wissen, was für uns mit viel Aufwand verbunden ist. Wir müssen unsere Entscheide rechtfertigen und werden darin überprüft. Uns fällt auf, dass solche Eltern nichts unversucht lassen, uns Verfahrensfehler nachzuweisen oder unser Urteil in Zweifel zu ziehen. Irgendein Verwandter ist dann bestimmt auch noch Rechtsanwalt, worauf sich der ganze Familienpulk gegen uns in Bewegung setzt. Manchmal kann ich mich des Eindrucks nicht erwehren, diese Ankläger würden so agieren, um ihren Sprösslingen endlich einmal zu beweisen, was für gute Eltern sie eigentlich sind.

Wenn Sie meine Meinung dazu hören möchten: Man ist nicht unbedingt dann ein verantwortlicher und guter Vater oder Onkel, wenn man unter Einsatz von Anwälten angeblichen Schaden von seinem – immerhin erwachsenen – Kind abwenden will. Meines Erachtens gehört zur Erziehung auch die Erfahrung von Niederlagen. Wer das eigene Kind unter einer Glocke von ausschliesslich positiven Erfahrungen heranzieht, bereitet es nicht auf die Wirklichkeit des Erwachsenenlebens vor, sondern bevormundet es und hält es in einem Käfig! Diese demonstrative Beweisführung, ein guter Vater oder eine gute Mutter sein zu wollen, stört mich an diesen Kampfeltern eigentlich mehr als der administrative Aufwand, der damit verbunden ist. Es ist deren oft verquere Motivation, über welche ich mich regelmässig aufrege. Sie wird umso schlimmer, als ich von meiner Seite ein solches emotionales Motiv als Grund eines Rekurses in einem Verfahren nicht ansprechen darf. Es gilt als Tabu, weil man damit die sogenannte Sachebene verlassen würde. Stellen Sie sich vor, welche Reaktionen ich auslösen würde, wenn ich in meiner Antwort auf eine Beschwerde vom schlechten Gewissen der Eltern schreiben würde, von deren Verweigerung, ihr Kind ins Erwachsenenalter zu entlassen, wo eben solche Sachen wie kritische Beurteilungen vorkommen, die für einen Reifeprozess oftmals grösseren pädagogischen Nutzen aufweisen als ein leicht errungener Erfolg.

Ganz aus dem Ruder lief es uns einmal vor ein paar Jahren, als ein Vater mich eines Sonntagabends zu Hause anrief und mich lauthals und verzweifelt beschimpfte, wir hätten mit unserem Entscheid, seinen Sohn wegen ungenügender Leistungen durch die Abschlussprüfung rasseln zu lassen, dessen Leben ruiniert (dieser war zu diesem Zeitpunkt immerhin schon über 30 und hatte mich im Vorfeld des Diplomierungsverfahrens zu Unzeiten auch schon etliche Male zuhause angerufen und mich aufgefordert, sämtliche Prüfungsexperten auszutauschen, weil diese sowieso etwas gegen ihn hätten). Der Vater drohte, wir müssten uns nicht wundern, wenn jetzt unserer Schule Gleiches widerfahre, was wir seinem Sohn angetan hätten. Unter dem Eindruck von Amok-Läufen an Schulen in den USA und in Deutschland veranlasste mich diese Drohung, die Polizei einzuschalten. Ich orientierte überdies die ganze Belegschaft und insbesondere den verantwortlichen Leiter des entsprechenden Studienganges und mahnte zu erhöhter Wachsamkeit. Für einige Tage herrschte bei uns Ausnahmezustand.

Andere Schulen verfügen für solche Fälle sogar über ein Katastrophen-Dispositiv, wo die personelle Besetzung des Krisenstabes bereits in „Friedenszeiten“ feststeht und die Checkliste für alle erforderlichen Handlungen in der Schublade liegt (und vielleicht auch grad noch die schusssicheren Westen). Ich machte mir damals schwere Vorwürfe, dass wir entsprechende Anweisungen nicht schon auf Vorrat parat hielten, meine aber im Nachhinein, gerade die allgemeine Verunsicherung habe die erforderliche Achtsamkeit erst mobilisiert, die bei einem fest installierten Krisenstab wohl auf diesen abdelegiert worden wäre. Doch selbstkritisch denke ich heute auch, dies sei eine nachgereichte Rechtfertigung einer Unterlassung, und ich weiss auch nicht, weshalb ich, wohl aus einer spielerischen Laune heraus, Ihnen so etwas überhaupt gestehe. Ich kenne Sie ja gar nicht und hoffe nur, Sie würden mir aus solchen Aussagen keinen Strick drehen.

Um die Geschichte abzuschliessen: dieser Sohn bzw. sein Anwalt (ein Onkel?) konnte uns zu unserem grossen Ärger tatsächlich einen Verfahrensfehler nachweisen: eine wichtige Kommunikation wurde statt brieflich und eingeschrieben als Email versandt und sei, so die Behauptung der Gegenseite, nie beim Empfänger angekommen. Also wurde für diesen Burschen die Wiederholung der Prüfung verlangt, der wir dann mit einem schweren Seufzer pflichtschuldigst auch stattgeben mussten. Das ganze Verfahren wurde diesmal gefilmt, und die Zusammensetzung der Expertengruppe war handverlesen. Die ganze schriftliche Kommunikation wurde mit Doppel dokumentiert und mit Datum und Uhrzeit versehen. Gleichwohl, er fiel nochmals durch. Als dann aus purer Verzweiflung der Vater die Flinte doch langsam ins Korn zu werfen schien und von seinen Drohungen abzusehen begann, liess er vielleicht zum ersten Mal in seinem Leben zu, selber Zweifel am Talent seines von ihm vergötterten und wohlbehüteten Sohnes zu hegen. Vielleicht gestattete diese Neubeurteilung es dem Sohn, die Zügel endlich selber in die Hand zu nehmen. Er trat nach einem Jahr nochmals an – und schaffte es.  Und der Lohn dafür stellte sich also gleich ein: Wir waren alle trotz lauter Ärger darob sehr glücklich oder – zumindest erleichtert. Der Sohn jedoch freut sich glaub ich bis auf den heutigen Tag nicht an seinem Diplom. Die vorher erlittene Schmach scheint er sein Leben lang als Wut auf uns mit sich herumtragen zu wollen.

Sehr geehrter Herr Rektor – Zunächst danke ich Ihnen für das Vertrauen, das ich bei Ihnen offensichtlich geniesse. Tatsächlich liefern Sie mir Stoff frei Haus, der einige Brisanz und Reiz aufweist, würde ich ihn weiter verbreiten. Vor allem kämen Sie wohl in Schwierigkeiten, würde es mir einfallen, Ihre Zitate zu veröffentlichen. Gerne komme ich aber auf mein früher gemachtes Angebot zurück, das da lautet, aus unserer Korrespondenz zusammen eine kleine Publikation ins Auge zu fassen. Ein möglicher Titel kam mir übrigens gestern beim Duschen in den Sinn: Meine Tochter zeichnet gern. Es ist dies der erste Satz, den ich Ihnen damals geschrieben hatte. Daraus hat sich dieser schriftliche Verkehr abgeleitet. Was halten Sie davon?

 Sehr geehrter Herr M. – Ich komme auf meine Bitte zurück, unseren Email-Verkehr einzustellen. Wir sind gegenwärtig an einer grösseren Reorganisation, die meine ganze Aufmerksamkeit erfordert. Ich bitte um Verständnis.

Sehr geehrter Herr Rektor – Ich verstehe Sie ja. Meine Beobachtung geht allerdings dahin, dass Sie nicht viel Gelegenheit haben, über solche Dinge nachzustudieren, wie wir sie in unserer Korrespondenz verhandeln. Aus Ihren Antworten spricht ein gewisser Rechtfertigungsdrang, der bei jemandem, der jeden Tag darüber sprechen könnte, wohl nicht in diesem Masse vorhanden wäre. Im übrigen bin ich überzeugt, dass auch Ihre Reorganisation den von Ihnen gemachten Überlegungen kaum Rechnung tragen sondern einzig der administrativen Macht zu Gute kommen wird. Unter dem Deckmantel einer Reorganisation geht es um eine Verschiebung der Machtverhältnisse hin zu den grauen Mäuse, die der Sucht verfallen sind, alles, was denkbar ist, auch einzuführen und einem systemischen Ordnungsprinzip zu unterwerfen. Und was allenfalls an der Front eingespart wird, geht aufs Konto Reporting und Controlling drauf. Ohne genau zu wissen, worum es sich in Ihrem Fall konkret handelt, so sage ich Ihnen voraus, dass Sie nach dieser Reorganisation entweder entmachtet oder in einem noch viel höheren Masse als früher administrativ eingebunden sein werden und damit noch weiter entfernt von dem, was Sie mir an Interessantem mitteilen. Ihr Kerngeschäft jedoch, nämlich die Ausbildung junger Menschen, wird in einem noch unflexiblerem Korsett als bisher stattfinden, auch wenn beim Start einer Reorganisation immer das Gegenteil behauptet wird. Wir befinden uns im Zeitalter der Bürokratie-Herrschaft, die mit jedem Teilerfolg Appetit auf noch mehr bekommt. Dahinter steckt der irrige aber unstillbare Glaube, damit alle Probleme dieser Welt lösen zu können. Wenn ich je einmal mit einem Transparent auf die Strasse gehen würde, so wäre es, um diesen Auswüchsen Einhalt zu gebieten. Ich habe auf Grund von Reorganisationen schon zweimal meine Arbeit verloren. Ich weiss, wovon ich spreche. Bei mir läuten alle Alarmglocken, wenn Sie von einer Organisationsentwicklung reden.

 Sehr geehrter Herr M. – Nur schnell: ich habe gar keine Wahl. Entweder gehört man zu einer Institution, die nach Veränderungen verlangt und versucht, das Beste und Gewinnbringendste daraus zu machen, oder man fällt aus dem System und ist draussen. Ihre warnenden Rufe in Ehren und ich verstehe, wenn Sie auf Grund Ihres eigenen Werdeganges ein gespaltenes Verhältnis zu Reorganisationen haben. Es tut mir auch Leid, was Ihnen alles widerfahren ist. Aber eine Organisation, die sich nicht permanent überlegt, wie sie mit Effizienz ihre Produktivität steigern kann, ist im heutigen Wettbewerb auf verlorenem Posten. Natürlich tönt „Produktivität“ im Zusammenhang mit einer Bildungsinstitution etwas fremd, aber letztlich geht es doch darum, was man mit dem zur Verfügung stehenden Geld alles ausrichten kann und welche strategischen Positionen wir mit den Inhalten, die wir vermitteln, besetzen können. Es sind fundamentale Bedrohungen, die uns zum Handeln bewegen, und nicht die von Ihnen erwähnte Sucht. Nun gut, wenn Sie auf dem Begriff Sucht beharren: es ist die Sucht nach Sicherheit und intakten Überlebenschancen. In meinen Augen sind das vitale Energien, die der Einzelne aber auch eine Institution brauchen, um gerüstet zu sein für eine ungewisse und mit Bedrohungen gespickte Zukunft. Bedrohungen, die nicht wie ein Erdbeben oder ein Lawinengang über einem hereinbrechen. Es sind vielmehr schleichende, pandemische Verschiebungen von Märkten zum Beispiel, und diese Veränderungen könnten uns irgendwann in näherer oder weiterer Zukunft die Luft abschneiden und unsere Daseinsberechtigung als Hochschule fundamental in Frage stellen. Da braucht es Voraussicht und die permanente Entwicklung aktueller und attraktiver Angebote und ein Umfeld, das im Quervergleich mit anderen nicht nur bestehen sondern auch gewinnen kann, weil es besser funktioniert. Das sind so Ziele, die mit unserer Reorganisation erreicht werden wollen. Wir hier in Luzern arbeiten schon jetzt günstiger als anderswo, drücken also den Benchmark, weil wir bisher auf vieles verzichtet haben, was anderswo nicht nur als Service, sondern auch als Kostentreiber identifiziert wird. Doch selbst bei uns, an einem relativ billigen Standort, muss die Effizienz überprüft werden, damit wir gegenüber den geldgebenden Behörden keine Vorwände produzieren, uns aus Kostengründen plötzlich vom Subventionstopf vertreiben zu lassen. Das geschieht mit Kleinen rascher als mit Grossen. Wissen Sie, die Zentralschweiz ist vom Einzugsgebiet und von der geographischen Nähe zu Bildungszentren wie der Nordwestschweiz und Zürich her „unterkritisch“, wie man in der Management-Branche so schön sagt. Es braucht also schon gute und übers Politische hinaus gehende Gründe, weshalb im Schatten des Pilatus und im Schatten wesentlich grösserer Bildungsinstitutionen hier eine selbständige Fachhochschule wirken soll. Und einer der Gründe ist eben die Effizienz, die günstige Kostenstruktur – ganz abgesehen von den tollen Angeboten, die wir in unserem Portfolio führen. Sie zeichnen sich, zumindest hier beim Design und bei der Kunst, durch schweizerische Alleinstellungsmerkmale aus, die auf uns aufmerksam machen und die wir sorgsam pflegen müssen, damit wir uns behaupten können.

Ich hoffe, Ihnen mit diesen Angaben gedient zu haben. MfG.

Sehr geehrter Herr Rektor – Verzeihen Sie, aber ich bleibe dabei. Ihre Institutionen werden nach der Reorganisation mehr kosten als bisher, und Ihr Job wird um einiges langweiliger werden, weil in vielen Bereichen die Entscheidungsmacht sich zu irgendeiner administrativen Zentrale hin verschoben haben wird. Sie werden anstelle von Entscheiden, die Sie früher noch im Alleingang fällen durften, für Ihren Geld-, Veränderungs- und Entwicklungsbedarf ellenlange Anträge schreiben müssen an irgendwelche Zentralverwalter, die nichts von Kunst und Design verstehen aber wissen, wie man knausrig das Geld hortet und gleichzeitig seine eigenen zentralen Abteilungen monopolisiert mit dem blauäugigen Argument, man sei schliesslich Dienstleister, dessen Wirken dem Nutzen aller zur Verfügung stehen soll. Dabei geht es nur um Macht! Gehen Sie einmal rechnen, wie viel Ihr IT-Netzwerk heute kostet und wie viel es von Ihrem Budget wegfressen wird, wenn es einmal unter einem gemeinsamen Dach mit den anderen betrieben wird.  Das ist so, auch wenn Sie mir nicht glauben wollen. Es verhält sich also umgekehrt: Ihre Reorganisation beschränkt einzig Ihren persönlichen Spielraum und gefährdet Ihre eigenen finanziellen Kompetenzen. Mir fällt immer wieder auf, wie der Glaube an administrative Verbesserungen blind macht und den gesunden Menschenverstand ausschaltet. Ich rede aus Erfahrungen. Ich wünsche Ihnen von ganzem Herzen, dass es bei Ihnen ausnahmsweise ganz anders herauskommen wird. Als gebranntem Kind lassen Sie mir aber bitte meine Zweifel.

 Sehr geehrter Herr M. – Ich werde Ihre Zweifel am richtigen Ort deponieren. Sie argumentieren wie unsere Dozierenden, die unter der steigenden administrativen Last leiden. Vielen Dank für Ihre Ausführungen. Ihnen ist vielleicht die strategische Bedeutung von organisationellen Massnahmen zu wenig bewusst. Gerade weil wir klein sind, dürfen wir uns nicht durch zu viele Entscheidungsträger verzetteln. Aufs Risiko hin, dass einmal falsch entschieden wird, gilt es, effiziente Strukturen zu schaffen und zu pflegen. Vielleicht ist dabei die damit erzeugbare Ersparnis nicht das beste Argument. Manchmal wird Ersparnis auch über Wachstum erzielt, dass also mit demselben Aufwand mehr geleistet werden kann. Das geht natürlich nur, wenn keine autokratisch gesinnten Leitungspersonen den Prozess stören. Ein Team von solidarisch unter denselben strategischen Zielen vereinten Abteilungsleitern kann die Aufgaben bestimmt besser erledigen. Wir werden deshalb logischerweise den Rektor-Titel verlieren.

 Sehr geehrter Herr Rektor – Ihr Glaube an die Verbesserungsfähigkeit komplexer Institutionen scheint in der Tat unverbrüchlich. Solche Loyalität wird sicher sehr geschätzt. Sie aber vollziehen einen Spagat, der in einem Beckenbruch enden wird. Die Kunstausbildung und das Profil eines Künstlers, wie Sie es in Ihren vorangegangenen Emails charakterisieren, gehören letztlich ins bürgerliche 19. Jahrhundert, das vielleicht bis Mitte des 20. Jahrhunderts gepflegt worden ist. Sollte dieses Bild immer noch Ihrem Ausbildungsziel entsprechen, so ist jede administratorische Reorganisation Feindin dieses Ausbildungsziels. Das von Ihnen skizzierte Künstlerideal setzt autokratische Führungsstrukturen voraus. An der Spitze muss eine sperrige Künstlerpersönlichkeit stehen, welche mit Unterstützung eines fleissigen Administrators, in Deutschland heisst diese Position Kanzler, den Laden schmeisst. Ich betone Unterstützung und nicht Führung! Der Chef-Künstler jedoch führt wie eine Glucke ihre Bibeli oder wie ein Hahn sein Glucken, führt sein Gefieder spazieren und verteilt seine Gunst ungerecht und willfährig, formt die Zusammensetzung von Dozierenden und Studierenden nach seinem Willen, und alle werden nach ihrem Weggang mit Bewunderung erheischendem Stolz sagen, sie hätten an dieser oder jener Schule studiert, wo XY Rektor war oder ist. Die von Ihnen jetzt unternommenen administrativen Anstrengungen hingegen führen darauf hinaus, dass Ihre Kunstausbildung zu einem administrativen Akt verkommt, wo niemand mehr weiss, wer diese Schule überhaupt prägt. Sie müssen sich also im Interesse des Rufes Ihrer Schule gegen Reorganisationen und Integrationen aller Art wehren! Bei mir wächst die Befürchtung, dass Sie sich diesem Kampf nicht ganz gewachsen fühlen und deshalb einen Weg wählen, der durchaus gangbar ist, aber nicht dem von Ihnen beschworenen Künstlerbild entspricht.

 Sehr geehrter Herr M. – Aus Ihren Ausführungen kommt nicht ganz klar hervor, wie sich Organisationsstrukturen negativ gegenüber dem von mir vermittelten Künstlerideal verhalten sollen.

Sehr geehrter Herr Rektor – Ich glaube an Vorbilder. Mir imponiert das, was Sie über die Rolle und das Selbstverständnis von aufmüpfigen Künstlern gesagt haben, auch wenn Ihre Ausführungen einem rückwärts gewandten Bild eines Künstlerdaseins entsprechen. Vielleicht wird dieses Bild ja eine Renaissance erleben, je mehr in einer Gesellschaft die Entwicklung zur Gleichförmigkeit und Veradministrierbarkeit hin voranschreitet. Aber weder taugen Sie selber als Vorbild für die Art des von Ihnen propagierten Künstlertypus noch tragen Sie mit Ihrer geplanten Reorganisation dazu bei, für derartige Künstler günstigere Voraussetzungen zu schaffen. Denn Reorganisationen enden meistens nicht bei einem neuen Organigramm und bei neuen Stellenbeschrieben, sie erzwingen auch eine Veränderung des Verhaltens aller daran Beteiligten, weil das neu installierte System mit neuen administrativen Ritualen alimentiert werden will. Jedes Ausfüllen eines neu entwickelten Rapport-Papiers verkommt somit zu einem Bückling gegenüber der allmächtigen Verwaltung. Und gerade diese Art von Domenstizierung entspricht doch nicht dem, was Sie verheissungsvoll zu Beginn unseres Email-Dialogs übers Wesen eines Künstlers mir weiszumachen versuchten. Ihre Künstler werden nach der Reorganisation nicht mehr die Widerborstigen sein, die sich einem Unterwerfungsritual verweigern, sondern sie füllen schön brav aus, was man ihnen auftischt – sonst fliegen sie von der Schule oder erhalten schlichtweg nicht die erforderlichen Credits.

 Sehr geehrter Herr M. – Ich halte Ihnen zugute, dass Sie sich mit der Materie ernsthaft beschäftigen. Es ist aber vielleicht an der Zeit, dass Sie sich outen und mir endlich sagen, wer Sie wirklich sind. Aus Ihnen spricht Sachverstand, Ihren Argumenten kann ich teilweise folgen, teilweise aber auch nicht. So wie mir selber vielleicht manche Äusserungen etwas plakativ geraten sind, so vertreten Sie jetzt eine Position, die in dieser reinen Form auch nicht angeht. Vielleicht müssten wir uns darauf verständigen, ob wir vom einem Idealtypus sprechen oder von den tausend Abweichungen, die erst in ihrer Summe einen Kern an Gemeinsamem erkennen lassen. Wir beide vermengen andauernd beides. Ich hätte gerade so gut von Künstlern sprechen können, welche administrative Abläufe aus dem Effeff beherrschen und mit diesen ihre Kunst managen oder ihr Spiel treiben. Mir fällt auch auf, dass heute an unserer Schule Studierende ein- und ausgehen, die noch vor zehn Jahren zur verschwindenden Minderheit gezählt haben: Gymnasiums-Abgängerinnen und –abgänger, die wählen können zwischen Universität und Kunst. Die einseitig Begabten hingegen, die früher solche Institutionen wie eine Kunstgewerbeschule geprägt haben, und die ausser zeichnen nichts konnten, dies aber mit einer Akribi und unglaublichem Talent, die von allen anderen Schulen wegen Schreibschwäche und Unangepasstheit geflogen sind, sind bei uns schon fast ausgestorben oder zumindest Exoten. Das hängt natürlich auch mit unserem Status einer Fachhochschule zusammen, der seit einigen Jahren den Mittelschul-Abschluss voraussetzt. Der Genie-Paragraph, der ausserordentliche Talente auch ohne entsprechende Vorbildung an unsere Schule aufzunehmen erlaubt, ist nur einzelnen wenigen und ausserordentlichen Begabungen vorbehalten.

Sehr geehrter Herr Rektor – Ich darf also davon ausgehen, dass alle „Genies“, die an Ihrer Schule keine Aufnahme mehr finden, eine immer grösser werdende Kohorte darstellt. Wäre es da nicht eine Überlegung wert, auf privater Basis eine Schule zu betreiben, die just diese aufnimmt? Ich glaube, da liesse sich ein grosses künstlerisches Potential ausmachen, das weit über das, was Sie an Ihrer Schule zu leisten imstande sind, hinaus geht.

 Sehr geehrter Herr M. – Einer solchen Genie-Schule möchte ich jedenfalls nicht vorstehen, und ich bin mir auch nicht sicher, ob Sie sich Ihrer Tochter wegen, die als Alternative zu einem künstlerischen Werdegang eine Lehrerausbildung in Betracht zieht, für eine derartige Schule interessieren würden. Ich glaube vielmehr, Ihre Tochter würde sich dort über kurz oder lang einsam fühlen. Üblicherweise findet an solchen Schulen keine ernsthafte Auseinandersetzung mit der Umwelt oder mit anderen künstlerischen Positionen statt. Das eigene Wirken bleibt das alleinige Anliegen der Beteiligten. Die frühere Luzerner Kunstgewerbeschule übrigens hatte die Tendenz zu dieser Art bildungsfeindlicher Genieschule. Spricht man mit früheren Dozierenden und Abgängerinnen und Abgängern, die vor vielleicht dreissig oder vierzig Jahren an dieser Rössligasse ein- und ausgingen, so entsprach diese ziemlich genau einer Institution, wie Sie sie in ihrem letzten Email vorgeschlagen haben. Die Schule wurde als Labor begriffen, um seine eigenen Grenzen zu erkennen und zu versuchen, diese zu überwinden. Die Devise lautete: jetzt oder nie. Fürs Überleben in der Arbeitswelt lernst du das, was du brauchst, später noch früh genug, nämlich sobald du hier rauskommst. Hier aber gilt es, dich und deine Fähigkeiten erst zu entdecken und dein künstlerisches Potential auszukundschaften. Vermutlich zum ersten und letzten Mal in deinem Leben. Noch heute leidet unsere Hochschule unter diesem Image. Die Kunstgewerbeschule gilt zwar als Vorreiterin für die mittlerweile weltberühmte Luzerner Fasnacht, womit ganz nebenbei ein Beweis der Vergesellschaftung künstlerischen Tuns erbracht worden wäre: Heute fühlt sich jeder Fasnächtler eine Woche lang wie ein Künstler, während sich die Künstler von diesem Treiben schon längst zurück gezogen haben. Aber diese „splendid isolation“ des eigenartigen Egomanentums führte eben auch dazu, dass diese Schule allzu sehr im eigenen Saft schmorte und seit der Fasnacht wenig dazu beitrug, ihre Nützlichkeit für die Gesellschaft unter Beweis zu stellen. Heute aber sind wir gezwungen, jederzeit den Nachweis zu erbringen, dass es uns braucht. Zu dieser Beweisführung braucht es auch Leute, die das mit sich anstellen lassen, welche die Notwendigkeit einsehen, für unsere Institution einzustehen und für ihr Überleben zu kämpfen. Mit lauter Genies wäre wohl diesbezüglich nicht so viel auszurichten.

Sehr geehrter Herr Rektor – Schade, dass Sie sich nicht für meine Idee einer freien Kunstschule begeistern lassen, auch wenn ich mir vorstellen kann, dass die Führung einer solchen Institution nicht die einfachste Sache der Welt wäre. Ich glaube, es wäre sogar falsch, eine solche Schule führen wollen, die führt sich wohl am besten basisdemokratisch selbst. Sie könnten als Chef also durchaus, wie das bei ein paar Deutschen Akademien immer noch der Fall ist, in Ihrem Büro eine Staffelei aufstellen und selber den Künsten frönen. Führung durch Vorbildsein, Führung als Hahn unter lauter Glucken und Bibelis.

 Sehr geehrter Herr M. – Jetzt drehen wir uns im Kreise, und für mich ist der Moment gekommen, mich zu verabschieden. Ich danke Ihnen für die anregende aber auch zeitraubende Korrespondenz, die ich hiermit für beendet erkläre. Grüssen Sie Ihre Tochter von mir und Ihnen wünsche ich alles Gute.

© Nikolaus Wyss

One Response to “Meine Tochter zeichnet gern — 1. Kapitel: eine Email-Korrespondenz”

  1. Maya Burri-Wenger

    Fand die e-mail Korrespondenz spannend. Habe diese non stop gelesen. Es war manchmal etwas mühsam. Frage mich, wer die fragende Person wohl war?
    Beide Standpunkte konnte ich nachvollziehen. Sie waren teilweise deckungsgleich mit meiner Sicht. Manchmal war ich deiner Meinung, manchmal überzeugte mich die gegenteilige Aussage.

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