Mors Lilla Olle

Ein paar Erinnerungen an meine durchaus bescheidene Karriere im Fernseh-Business – Aus dem Zyklus WER KOMMT MIR DA ENTGEGEN? —

Das schwedische Kinderlied Mors Lilla Olle treibt in meinem Brummschädel schon wieder seit Tagen sein Unwesen. Es ist wie ein Fieber. Seine Strophen dringen an die Oberfläche meines Bewusstseins und nehmen davon Besitz. Ich trällere den ganzen Tag Mors lilla Olle i skogen gick… und weiss eigentlich nicht wieso. Was hat denn dieses Liedchen für eine Bewandtnis mit dem Schweizer Fernsehen, worüber zu schreiben ich mich eigentlich anschicken wollte?

Um vorerst beim Liedtext zu bleiben: er handelt vom einsamen Klein Olle, der in den Wald geht und süsse Früchte pflückt. Die Sonne scheint und alles wäre so schön, wenn der Bub sich nur nicht so alleine fühlen würde. Da knackt es im Gebüsch. Brummelibrumm, vem lufsar där? – Brummelibrumm, wer kommt denn da? Ein Zottelbär mit dichtem Fell. Der Bub streichelt das Tier und teilt mit ihm die gesammelten Früchte. Jetzt ist Klein Olle glücklich. Endlich hat er Gesellschaft. Doch da erblickt Olles Mutter den Bären und schreit entsetzt auf, worauf sich der Bär in den Wald verzieht. Olle aber ist bitter enttäuscht und wirft seiner Mutter vor, sie hätte seinen neuen Spielkameraden fortgejagt! Hol ihn mir wieder, bittet Olle: … bed honom komma igen!

Dieses Kinderlied begleitet mich seit Kindsbeinen. Meine Mutter, die während des Zweiten Weltkrieges einige Jahre mit ihrem ersten Mann in Schweden gelebt hatte, brachte es aus jener Zeit mit in die Schweiz. Vielleicht lernte sie es dort schon mal auswendig, um gut vorbereitet zu sein, sollte sie in Schweden irgend einmal ein Kind gebären. Doch der ersehnte Nachwuchs blieb aus und die Ehe ging in Brüche. Das Lied aber blieb, und ich als spätgeborener Sohn eines Schweizer Vaters wurde Nutzniesser dieser frühmütterlichen Vorratshaltung. Zum Entzücken gelegentlicher schwedischer Besuche trug ich Dreikäsehoch dieses Lied jeweils auf Schwedisch vor, ohne genau zu wissen, was es bedeutete. Mir gefiel der drollige Rhythmus des Liedes und eben der Vers Brummelibrum, vem lufsar där?, den es mit gestützter Stimme zu singen gilt.

Mors Lilla Olle wurde zu meinem Leitmotiv für alle Lebenslagen, mal stärker, mal weniger stark, jedenfalls immer stark genug , um mich nicht nur der Melodie zu entsinnen sondern auch, mit Lücken, der Worte. Manchmal denke ich, in diesem kleinen Kinderlied stecke der Schicksalskern meines ganzen eigenen Lebens.

Erstens: Vieles, was mir in meinem Leben begegnete, nahm ich nicht als Bedrohung wahr sondern als so interessant, dass ich mich gerne darauf eingelassen, mich damit auseinandergesetzt oder gar befreundet hätte. Geographie zum Beispiel, die Welt der Popsongs und der Schlagerlieder, Theologie und Buddhismus, die Welt der Moden, Gastwirtschaft und Hotellerie, die Lebenserfüllung als Strassenwischer oder Gärtner, der Lifestyle eines Künstlers, eines Piloten, Missionar in Afrika, Händler in Lateinamerika, Korrespondent in Asien, dann aber auch Saunas und Bordelle… – Sobald ich mir aber deren Gefahren und Konsequenzen, also der ungewissen und folgenreichen Seite oder aber der Unschicklichkeit, sich damit zu befassen, vor Augen führte, entglitt es meiner Aufmerksamkeit und verschwand wieder im dunklen Wald, noch ehe ich mich dagegen hätte zur Wehr setzen oder es als Chance, die es zu nutzen galt, hätte identifizieren können. Und dann schmerzte mich im Nachhinein der Verlust immer sehr und ich versank in Selbstvorwürfen und Trübsal, oder ich machte die falsche Erziehung in meinem Elternhaus dafür verantwortlich. Wie oft verwarf ich einen verheissungsvollen Weg oder eine mögliche Beziehung, nur weil ich Angst hatte, damit meine angestammten Freiheiten zu verlieren! Ich war mir sicher, dass Chancen stets mit unsäglichen Mühen, Risiken und neuen, nicht absehbaren Abhängigkeiten verbunden waren. Ich traute mir diesbezüglich einfach nicht so viel Kraft und Ausharrungsvermögen zu. Mir fehlte die Energie zur Selbstbehauptung, die gegen mögliche Widerstände erst so richtig in Fahrt gekommen und in Bewährungssituationen erblüht wäre.

So kommt es, dass ich aus der Rückschau an vielen vitalen Herausforderungen meines Lebens vorbeigeschliddert bin und heute ein Defizit an Heldentaten oder mindestens an Karrierenschritten aufweise. Ich lebe, halbwegs zufrieden und gänzlich ergraut das unbedeutende Leben eines Rentners in einer grauen Schweizer Vorstadt…

Schicksalshaft das Lied auch deshalb, weil ich in den ungewöhnlichsten Momenten ein schwedisches Kinderlied zur Hand hatte und es ungeniert vortragen konnte zu allen passenden und wohl eher auch zu unpassenden Gelegenheiten. Das zeichnet mich noch heute aus. Ich galt Zeit meines Lebens als jemand, der die Leute mit seinen Bemerkungen und Interventionen gut zu unterhalten und zu überraschen wusste, der aber für die letztendlichen Ernsthaftigkeiten dieses Lebens nicht ganz überzeugte. Der Anteil des Spielerischen und Verspielten schien einfach zu gross zu sein. Man brauchte für mich gerne das Eigenschaftswort originell, was ich im Verlaufe des Älterwerdens eher als Bürde denn als Ehre empfand. Man traute mir zwar die Abendunterhaltung zu, aber nicht die Führung eines Betriebs, nicht die Übernahme familiärer Verantwortung, nicht die ultimative Herausforderung.

Wer sich also auf die Bedeutungsmöglichkeiten von Mors Lilla Olle einlässt, kann mit Leichtigkeit Bezüge zu meinem eigenen Leben herstellen, und ich neige selber dazu, hinter diesem mich prägenden Lied Sinnfälliges und Symbolisches zu vermuten, sonst würde es mich wohl nicht so begleiten wie kein anderes Lied.

Nun also reite ich wieder einmal auf einer Lilla-Olle-Welle und frage mich, wie es kommt, dass ich just diesen Liedtitel über einen Text stellen möchte, der scheinbar so gar nichts zu tun hat mit diesem schwedischen Kinderlied. Es soll vielmehr, ich erwähnte es schon, ein Text über meine Erfahrungen mit dem Fernsehen werden, zu welchem mir aber kein Titel einfällt. Mors Lilla Olle ist in meinen Ohren allemal besser als Guten Abend, liebe Zuschauerinnen und Zuschauer oder: Schön, dass Sie wieder eingeschaltet haben.

So schicke ich mich an, über meine durchaus bescheiden verlaufene Fernsehkarriere nachzudenken, und mir zwischenhinein immer mal wieder die Frage zu stellen, wer ist hier Lilla Olle? Wer der Bär? Wer die Mutter? Wo ist der Vater? Und was bedeuten die Beeren im Wald?

Fernsehen saugte ich mit der Muttermilch auf, und ich atmete mit einer gewissen Erregung diesen technischen Geruch der heissen Bildschirmröhren. In der Pionierzeit des Schwarzweiss-Fernsehens, wo dienstags noch Sendepause herrschte, leitete und moderierte meine Mutter eine Sendung, welche Das Magazin der Frau hiess. Sie wurde jeweils am späteren Samstag Nachmittag von einer auftoupierten Heidi Abel angekündigt, auf dem Tischchen ihrer Sprecherkabine welkte jeweils ein Blümlein dahin. In der Sendung bereitete der Bündner Koch Hans Simonett feine Speisen zu, von denen die Studiogäste nach der Sendung naschen konnten. Der Basler Eugen F. Schildknecht, dessen glänzende Glatze immer besonders gepudert werden musste, gab als Sprecher der Beratungsstelle für Unfallverhütung Ratschläge. Rechtsanwalt Dr. Martin Howald erörterte Neuerungen im Kindes- und im Scheidungsrecht, Modezeichner Walter Niggli berichtete von den neuesten Trends aus Paris und Mailand mit einem fetten Zeichenstift, der immer so stark quietsche, dass der Tonmeister, Träumer-Seppli genannt, das legendäre Käsebrot, welches er jeweils während der Sendung vertilgte, ablegen und den Ton zurückfahren musste. Ein Arzt, dessen Name mir entfallen ist, war für Gesundheitstipps verantwortlich. Und meine Tante Engelina von Burg agierte als erste Konsumenten-Beraterin. Es ging also ziemlich familiär zu und her. Meine Mutter zeichnete als Redaktorin für die Inhalte verantwortlich und führte gleichzeitig als Moderatorin durch die Sendung. Sie war jeweils vom vorangehenden Freitag an nicht mehr ansprechbar, und ich ging ihr mit meiner Aufmerksamkeit erheischenden Anwesenheit so ziemlich auf den Wecker. Es gab Ablaufbesprechungen bei uns zu Hause, überall in der Wohnung lagen Moderationszettel herum, und ich hörte sie auf dem Klo üben: Grüessech, liebi Zueschouerinne und Zueschouer…

In der Schule machte mich jeweils am Montag mein Sitzbank-Nachbar Rolf Stoffner darauf aufmerksam, wenn er wieder einmal meine Mutter am Bildschirm gesehen hatte. Er war der einzige in der Klasse, dessen Familie schon so eine Flimmerkiste zu Hause stehen hatte. Das beeindruckte mich aber nur wenig, konnte ich doch jeweils mit der Mitteilung kontern, ich sei sogar dabei gewesen!

Während also meine Schulkamerädchen, ausser Rolf natürlich, samstags als Pfadfinder-Wölfe hinter dem Zoo Spuren zu lesen und mit nassem Holz ein Feuer zu entfachen versuchten, guckte ich der neuen Medienwelt über die Schultern. Das Fernsehstudio an der Kreuzstrasse wurde mir als Bub zur zweiten Heimat. Ich kannte vom Aufnahmeleiter bis zum Maskenbildner, vom Skript-Girl bis zum Regisseur, vom Beleuchtungschef bis zum Tonmeister, von der Fernsehansagerin bis zum Decor-Chef, von den Kameraleuten bis zum Concièrge alle, und sie erlaubten mir, ihnen bei ihrer Tätigkeit zuzuschauen und manchmal ihnen sogar zur Hand zu gehen. Die Leute im Studio kamen mir vor wie eine Mannschaft auf einem Schiff. Sie fuhren als stummes, verschworenes Team eine Sendung und verständigten sich untereinander mit Handzeichen. Mich vermochte dieses konzentrierte Zusammenwirken aller Chargen immer wieder zu faszinieren. Zuerst die kalte Probe, dann die heisse. Und dann brannte das rote Licht am Eingang und signalisierte Live-Aufnahme. Der Aufnahmeleiter, verkabelt mit der Senderegie, stand neben der Kamera 1 und zählte mit seinen Fingern die Sekunden zurück: 5-4-3-2-1. Dann schwenkte er seinen Arm nach unten und gab damit das Zeichen, mit Sprechen zu beginnen.

Es war nun mucksmäuschenstill in diesem Studio, niemand mehr durfte es von jetzt weg betreten, alle Protagonisten warteten hinter den Decors auf ihren Auftritt und stolperten in ihrer Nervosität schon mal über ein Kabel oder erschienen im Bild, obwohl sie noch gar nicht an der Reihe waren. Solche Patzer fanden jeweils ihren Niederschlag in kritischen Rückmeldungen der Führungsverantwortlichen. Sie leiteten ihre Feedbacks gerne mit der Bemerkung ein, sie hätten leider die Sendung selber nicht gesehen, aber ihre Gattin hätte festgestellt, dass da plötzlich ein Schatten über den Bildschirm gehuscht sei! Oder: XY habe aber einen üblen Versprecher gemacht! Oder: die Anmoderation und der Übergang vom einen zum anderen Beitrag sei allzu holprig vonstatten gegangen! Oder: mit dieser Frisur/diesem Kleid/diesem Make-up sollte diese Frau nicht mehr vor die Kamera treten! – Diese Art von Kritik und die Nennung ihrer angetrauten Quelle lösten nicht gerade eitle Freude aus, schweisste aber gleichzeitig die Studio-Mannschaft komplizenhaft zusammen im Wissen um die stümperhafte und unqualifizierte Beurteilung ihrer Arbeit durch die Oberen, die nur deshalb Obere waren, weil sie dort hinaufgeschwemmt oder von ihren Gattinnen hinaufgedrängt worden sind.

Man muss sich vergegenwärtigen: In den 50er Jahren beim Schweizer Fernsehen zu arbeiten war mit existentiellen Risiken verbunden. Niemand wusste, ob in diesem Medium überhaupt eine Zukunft lag. Das erste Sendehaus auf dem Üetliberg, so geht die Saga, sei als Einfamilienhaus konzipiert worden, sollte sich das Vorhaben Fernsehen als Flop erweisen. Deshalb bot diese junge Institution vorab denjenigen eine Chance, die es auf dem konventionellen Arbeitsmarkt, sei es an Schulen oder Theatern, in mittelständischen Betrieben oder in der Verwaltung, nicht unbedingt zu etwas gebracht hätten. Aber beim Fernsehen waren sie als Pioniere willkommen, und mit wachsendem Erfolg schaukelten sie sich ohne entsprechende Führungserfahrung oder Ausbildung allmählich in Kaderpositionen hinauf. – Nun gut, Fehlentscheide und Fehlbeurteilungen, von wem auch immer getroffen, hatten ja nicht diese Tragweite wie heute, es schaute kaum jemand zu. Meine Mutter reduzierte ihr eigenes televisorische Risiko, indem sie gleichzeitig noch Redakteurin an einer Zeitung war, für die sie sich dann später ganz entschied.

Aber was sind das für Überlegungen von einem, der mittlerweile selber dem eigenen Berufsleben entwachsen ist! Für mich als Bub war es damals im Studio einfach nur spannend. Nichts bekam ich davon mit, dass trotz Teamgeist auch ein Geschlechterkampf im Gange war. Ein Skriptgirl zum Beispiel wollte plötzlich nicht mehr nur Skriptgirl sein. Der Regisseur, der seine jährliche Übertragung des Lauberhornrennens unter Einbezug von zwölf Kameras auf seinem Palmarès einen Spitzenplatz zuwies, sei deshalb ausser Fassung geraten, trug man mir wesentlich später zu. Skriptgirls seien schliesslich nur zuständig für die Verfolgung des Sendeablaufs und des Drückens der vom Regisseur vorbestimmten Kamera. Mit Unterstützung meiner kämpferischen Mutter aber sollte in Zukunft die Sendung auch von einer Frau gefahren werden. Ich glaube, das verschworene Studioteam dort an der Kreuzstrasse sah mit gemischten Gefühlen dieser neuen Regentschaft entgegen. Die Frauen hatten zu jener Zeit ja nicht einmal das Eidgenössische Stimm- und Wahlrecht.

Welche Kämpfe auch immer ausgefochten wurden, mir genügte die Rolle, mich im Studio als Sohn der Mutter zur Verfügung zu halten, falls man für irgend einen Beitrag einen Buben brauchte. So putzte ich schon mal zusammen mit Marlieseli, der Tochter des Rechtsanwalts, vor der Kamera die Zähne und schrie Nein, als man uns Süsszeug entgegenstreckte. Ich erinnere mich nicht mehr an alle Einsätze, und ich könnte auch nicht mehr beschwören, ob ich vor laufender Kamera einmal Mors Lilla Olle zum Besten gegeben habe (in welchem Kontext hätte denn so was überhaupt Sinn gemacht?), doch einmal ging es um die Frage, wie wir Schweizer unseren Bettag feiern. Vorgesehen war eine Strassenumfrage, meine Mutter war Reporterin. Es regnete und regnete und die Strassen waren leer. Der Kameramann Willy Leuthold, der nur deshalb einen DKW fuhr, weil er gerne behauptete, dieser Markenname heisse Da Kommt Willy, versuchte die durchnässte Gruppe mit humorigen Sprüchen bei guter Laune zu halten. Er schlug meiner Mutter vor, doch ein Interview mit ihrem Sohn zu machen. So hätte man wenigstens schon ein paar Sekunden im Kasten. Meine Mutter ging dankbar darauf ein. Leuthold baute also im strömenden Regen seine Kamera auf und stellte uns beide in einen günstigen Aufnahmewinkel. Dann nahm Herr Haldimann eine Tonprobe vor und gab dann die Aufnahme frei: Das hiess im Jargon von damals: Ton ab, worauf Leuthold meldete: Kamera läuft. Darauf durfte ich die Klappe betätigen und liess sie anschliessend hinter mir auf dem Mäuerchen ausserhalb des Bildausschnitts verschwinden.

Meine Mutter, das Mikrophon in der Hand, fragte mich: Was macht ihr zu Hause am Bettag?

Ich antwortete, wie abgemacht: Bei uns gibt es Zwetschgenkuchen. Das ist Tradition.

Darauf bemerkte meine Berndeutsch sprechende Mutter spontan: Dann muss deine Mutter aber eine Bernerin sein.

Angesichts dieser überraschenden Feststellung staunte ich ins Weite.

Gestorben? fragte darauf Leuthold hinter der Kamera Haldimann.

Gestorben! quittierte dieser und zündete sich eine Zigarette an. Wiederholungen wurden vermieden, Filmmaterial war kostbar, das Einlegen einer neuen Filmrolle im strömenden Regen hätte keinen Spass gemacht.

Solche Erfahrungen alimentierten meine Vorträge, die wir Schüler vor der Klasse über dies und jenes halten mussten. Ich galt als Fernseh-Experte, bis eines Montags Rolf kam und behauptete, er hätte meine Mutter als Kandidatin bei EWG – Einer wird gewinnen, gesehen. Das war zu jener Zeit die grosse Unterhaltungskiste mit Joachim Kulenkampff am Samstag abend.  Ich aber hatte davon nichts gewusst. In der Annahme, man könne in der Schweiz das Deutsche Fernsehen gar nicht empfangen, unterliess es meine Mutter, mich darüber zu orientieren, was sie in Köln zu tun beabsichtige, als sie sich fürs Wochenende abmeldete und mich einer Nachbarin zum Hüten überverantwortete. Laut Rolf musste sie in zwei Minuten einen möglichst langen Shawl häkeln. Sie kam damit aber nicht weiter. Der Shawl ihrer Konkurrentin wurde länger. Als Folge dieser für mich peinlichen Geschichte, peinlich nicht so sehr wegen des frühen Ausscheidens meiner Mutter sondern peinlich wegen meines Nichtwissens, stand von nun an ein Fernsehapparat in unserer Wohnstube mit Empfang des deutschen Senders inklusive.

Irgendwann entwuchs ich meiner eigenen Fernsehbegeisterung. Meine Mutter gestaltete neben den Frauensendungen jetzt auch noch Sendungen und Reportagen über Medizin und soziale Probleme, und Mäni Weber, der aufkommende Star am Schweizer Fernsehhimmel, trat ins Team meiner Mutter ein. Als sie einmal krank war, besuchte er sie zu einer Besprechung bei uns zu Hause. Für mein damaliges strenges sittliches Empfinden sass er bei ihr am Krankenbett aber ungebührlich nahe. Deshalb musste ich als kleiner Sittenwächter den notorischen Charmeur stets im Auge behalten. Doch während Herr Weber immer mehr Moderationsaufgaben übernahm und schweizweit immer bekannter wurde, kam ich mir zusehends billig vor, den Klassenkameraden mit Verdiensten, Leistungen und mit dem Bekanntenkreis meiner Mutter zu imponieren. Ich wandte mich von nun an anderen Dingen zu, bei denen ich selber die Hauptrolle spielen wollte. Nach dem Übertritt in die Mittelstufe begann ich zum Beispiel im Schülerorchester Fagott zu spielen und machte an Wald- und Orientierungsläufen mit. Das Fernsehen galt im Gymnasium sowieso als kulturlos und wurde als reines Unterschichten-Phänomen abgetan. Man kam sich eindeutig besser vor von sich behaupten zu können, man besitze zu Hause keinen Fernseher. Bei der Mondlandung oder bei der Olympiade von Rom allerdings war unsere Wohnstube bis auf den letzten Sitzplatz besetzt mit Zuschauern, die sich für einen Fernseher eigentlich zu schade waren.

Diese ersten Fernseherfahrungen im Studio Bellerive, so hiess die umgebaute Tennishalle an der Kreuzstrasse damals, vermittelten mir während der darauffolgenden Jugend- und Erwachsenenzeit immer die Gewissheit, dass ich mit dem Fernsehmachen eigentlich vertraut bin. Es würde mir keine Mühe machen, eine Sendung hinzukriegen. Das Gefühl dafür hätte ich, und die notwendigen Schritte dazu waren mir präsent. Willy Leuthold hatte mich ja schon früh ins Phänomen des Achssprungs eingeweiht, und der Tönler Haldimann klärte mich über die Wichtigkeit des Vorratsammelns von Ambience-Ton auf Vorrat auf, der Ambi, damit man beim Filmschnitt Tonlöcher stopfen konnte. Über Filmschnitt und Synchronisation wusste ich zu parlieren wie ein alter Habitué, und der Schweizer Fernsehliebling Heidi Abel hielt mich für einen der ihren. Sie stellte mir fürs Hüten ihrer Katze wie selbstverständlich ihr Häuschen am Lützelsee zur Verfügung, als sie sich einmal auf einen mehrmonatigen Meditations-Aufenthalt in einen Ashram nach Indien begab. Sogar ihr Auto durfte ich benutzen. Dies alles hatte zwar nichts mit meinen Fernsehkenntnissen zu tun, aber mit der Vertrautheit und Akzeptanz unter den Programmschaffenden, zu denen ich mich irgendwie zu zählen verstand. So war es auch nicht weiter verwunderlich, als ich Mitte der achziger Jahre nach einem Studium und den ersten Schritten als Selbständigerwerbenden beim Schweizer Fernsehen anheuerte und Mitglied der Kulturredaktion wurde.

Kultur? Fernsehen? – Haben nicht gerade diejenigen, die sich etwas auf ihr eigenes Kulturverständnis einbildeten, mir in meiner ganzen Jugendzeit zu verstehen gegeben, dass sie weder Fernsehen schauen und noch viel weniger etwas von Kultur am Fernsehen halten?

Von meinem Studium her war mir klar, dass jede Gesellschaft für sich herausnimmt, selber mitzubestimmen, was sie unter Kultur versteht – modelliert durch die jeweiligen Machtverhältnisse und Meinungsführerschaft. Das ist das Eine. Das andere ist, dass jede neue Generation versucht, das sie umgebende kulturelle Establishment mit andersartigen Vorstellungen darüber, was kulturell wertvoll und relevant sein könnte, herauszufordern. Der Zürcher Literaturstreit von 1966, wo der Germanist Emil Staiger sich in einer sagenhaften Philippika von der Moderne verabschiedete, indem er bekannte, diese nicht mehr als Literatur und Kultur anzuerkennen, ja, diese zu verabscheuen mit ihren dunklen Gestalten, die das Tageslicht scheuten, wurde bei mir zu Hause heftig diskutiert und schärfte mein Sensorium für den Wandel kultureller Werte. Plötzlich wurde die Lektüre von Feuilletons für mich interessant, die aktuellen Diskussionen verliehen der kulturellen Debatte und dem Kampf um Vorherrschaft und Beachtung eine einzigartige Dynamik. Nicht zuletzt spielte und spielt noch heute auch die Politik und die Verwendung öffentlicher Gelder ihren essentiellen Part, geht es doch um die kulturelle Bewirtschaftung öffentlich subventionierter Räume wie Theater, Museen, Pärke, Plätze und um finanzielle Unterstützung kultureller Vorhaben. Es braucht seine Zeit, bis etwas zum Klassiker wird und von allen Anspruchsgruppen streitlos für kulturell wertvoll anerkannt wird.

Ich versuchte ja nach dem Studium selber am Kulturbegriff ein bisschen zu drehen, als ich zusammen mit einem Studienkollegen Ende der 70er Jahre in verschiedenen Kellertheatern von Zürich Talk-Shows mit gewöhnlichen Leuten veranstaltete, die transkribiert ihren Niederschlag in der Zeitschrift Der Alltag – Sensationen des Gewöhnlichen fanden. Wie die Byline bereits andeutet, ging es uns damals darum, die Aufmerksamkeit für grosse und aussergewöhnliche Ereignisse etwas abzuziehen und auf Alltägliches hinzulenken. Programm war die Behauptung, dass jede Art von erzählbaren Geschichten und ausserordentlichen Tatbeständen uns zwar mental vorübergehend in Beschlag nehmen, nach einer Weile aber wieder abziehen und neuen Geschichten Platz machen. Der prägende Alltag jedoch bleibt: selbst wenn ein Staatspräsident ermordert wird, putzen wir am Ende des Tages noch die Zähne. Selbst wenn wir einen ausserordentlich berührenden Film gesehen haben, verspüren wir anschliessend Hunger und essen etwas, wie wir das an all den anderen Tagen, wo wir kein entsprechendes Erlebnis haben, auch tun. Klar, vorübergehend kann es einem der Appetit verschlagen, später aber ist man doppelt hungrig. Und wenn wir von einem erschütternden Flugzeugabsturz Kenntnis haben, versuchen wir trotzdem, wie an all den anderen Werktagen auch, rechtzeitig ins Büro zu gelangen…

Gewöhnliche, alltägliche Dinge gelten als grau, als kaum erwähnenswert und uninteressant – weil scheinbar gleichbleibend. Sie bilden zwar den Nährboden für Ereignisse und Sensationen, bleiben selber aber im Schatten. Doch dieser Schatten ist prägend und wandelt sich sogar, unmerklich zwar aber doch so, dass wir uns in einem Haushalt von früher, in einem Kleiderschrank mit Wäsche von vor 30 Jahren oder beim Ausfüllen eines Zahlungsscheins nicht mehr zurecht finden würden. Gerne verwendeten wir einen Spruch von Andy Warhol, der da ungefähr hiess: schliesse heute ein Warenhaus, dann hast du in 20 Jahren ein perfektes Museum. Sogar der ewige Schriftzug auf der Coca-Cola-Flasche sieht heute anders aus, und wir haben den allmählichen Wandel gar nicht bemerkt.

So gehört der Alltag zu einem wesentlichen Bestandteil der Kultur, der zu jener Zeit, als wir ihn thematisierten, noch über ein beträchtliches Beachtungspotential verfügte. Diese Vorgeschichte dürfte mit ein Grund gewesen sein, dass man mich beim Schweizer Fernsehen überhaupt angestellt hat. In gewissen Kreisen war ich schon bekannt.

Doch bereits die Anstellung war ein Drama. Es spielte sich zwischen meinem direkten Vorgesetzten, Fred Gnädinger, und seinem Chef, Dr. Dr. h.c. Jean-Louis Bitterle, ab. Bitterle, Dr. Bitterle bitteschön, hatte mich, wie gesagt, aus vorgenannten Gründen ausgewählt, während Gnädinger mich eher nur als freien Mitarbeiter gesehen hätte, wenn überhaupt. Denn er hatte schon genug mit derjenigen Kultur zu kämpfen, die unbestritten als solche Anerkennung genoss. Wie sollte es da noch einen vertragen, der womöglich alles, was sich auf dieser Erde irgendwie bewegt, auch noch als kulturell relevant erklärt?

Bei der knappen Sendezeit war es schliesslich ein Kampf um Sekunden. Vorschläge für Ausstellungsberichterstattungen, Theater-Uraufführungen, Jubiläen und Auszeichnungen von Schriftstellerinnen, Autoren, Sängerinnen, Rückblicke und Ausschaus auf Festivals aller Art, Debatten über die Kürzungen der Ausgaben im Bereich der Kulturförderung – alles lag auf dem Tisch und sollte in irgendeiner Weise in einem wöchentlich 45 Minuten dauernden Sendegefäss seinen Niederschlag finden. Da war man mit der Forderung nach Ausdehnung des Kulturbegriffs wohl fehl am Platz. Wahrscheinlich hätte ich sofort in die Unterhaltung wechseln sollen, wo neben den grossen Unterhaltungskisten am Samstagabend alle Arten von Quiz, Kochen, Talk-Shows und Haushalt-Tipps den Alltag der Zuschauerinnen und Zuschauer alimentierten. Dort hätte ich mein Flair für Alltägliches wohl besser ausleben können statt in diesem Haufen voller Sekundenschinder, Intriganten und Ellbögelern, Alkoholiker und Abhängiger anderer Drogen. Schon bald kaprizierte ich mich auf die Haltung, gewisse Arten von Kulturschaffen, wie zum Beispiel moderne Musik oder Kunst-Performances müssten vor Fernsehkameras geschützt werden, weil sie ein Vorwissen und Verständnis einfordern würden, wie sie bei einem durchschnittlichen Fernsehkonsumenten nicht erwartet werden könnten. Fehlt einem aber bei gewissen kulturellen Vorgänge der Kontext, so besteht die Gefahr, dass diese ins Kreuzfeuer unqualifizierter Kritik geraten und ihren bereits schweren Stand zusätzlich gefährden. Aber auch dieser Standpunkt war in der Redaktion heiss umstritten, denn jeder von uns hatte ja schliesslich sein eigenes kulturdurchtränktes Umfeld ausserhalb des Fernsehens, für welches man in der Redaktion lobbyierte und wo man als Agent für dessen Anliegen wahrgenommen wurde und wo man als Kulturberichterstatter auch kritisch beobachtet wurde. Erfüllte ein Berichterstatter die von aussen in ihn gesetzten Erwartungen nicht, so verlor er als Helfer und Vermittler dieser Anliegen an Respekt und wurde von nun an womöglich sogar geschnitten.

Ich machte, alles in allem, die schreckliche Erfahrung, dass dieses Fernsehen nicht mein Fernsehen war, das ich von Kindsbeinen her zu kennen glaubte. Als Reporter und Redaktor bewegte ich mich in einem Sandwich von Erwartungen. Auf der Seite der Kulturschaffenden musste ich den Tatbeweis erbringen, mich für ihre Sache einzusetzen, und auf der Seite des Fernsehens ging es darum, mit seinen Beiträgen die notwenige Beachtung auch bei einem unqualifizierten Publikum zu erreichen. Als Angestellter befand ich mich zudem in einer stark hierarchisierten Institution, wo sich die Oberen von den Unteren mit Sie ansprechen liessen und Krawatten trugen, während uns Redakteuren und Reportern die Rolle von Willensvollstreckern anderswo ausgeheckter Entscheide und Quoten-Erwartungen zukam.

Dabei war die interne Ausbildung wirklich toll. Wir lernten alles, von dem es später hiess, es gehöre in den Giftschrank. Wir produzierten unmögliche Beiträge, waren laut, frassen über den Haag, hatten Spass und äfften die Wichtigtuer der oberen Etagen nach. Unserer Gruppe war ein gewisses anarchistisches Verhalten eigen, ich erinnere mich noch, für Kameratests einmal eine Besprechung eines fiktiven Buches vorbereitet zu haben mit dem Titel Das Glück als Pointen-Killer. Ich konnte mir beim Vortragen des absurden Textes ein Schmunzeln nicht verkneifen. Wieder etwas für den Giftschrank. Mehrdeutigkeiten und Zweifel Schürendes waren schliesslich verboten in dieser eindimensionalen Welt des Fernsehens. Wir wurden angehalten, bei unseren Beiträgen jeweils vom allerdümmsten Zuschauer aus zu gehen, der aber immerhin noch imstande wäre, in beleidigtem Zustand eine Klage einzureichen. So tobten wir uns in den Zeiten unserer Schulung aus, wohl wissend, dass das andere, seriöse Fernsehschaffen uns noch früh genug ereilen würde.

Festgehalten am Fernsehen hingegen hat mich das Teamwork. Ein Bericht entstand stets aus dem Zusammenwirken mehrerer Frauen und Männer. Es brauchte nun mal jemanden für die Kamera und für den Ton, bei gepflegten Aufnahmen kam noch jemand für die Beleuchtung hinzu. Der Schnitt geschah in Zusammenarbeit mit einer Cutterin oder einem der seltenen Cutter, dann kam mit wiederum anderem Personal die Vertonung und zum Schluss die Abnahme. Und bei einer Sendung aus dem Studio gab es alle diese Berufssparten gleichzeitig und noch ein paar mehr. Zur Arbeit gehörte also auch die Vermittlung der Ideen, die man mit sich herumtrug, die Motivation des Teams, und da merkte ich dann schon, dass ich mit der Zeit einigen ans Herz gewachsen war. Dies entschädigte mich für die zum Teil leidvollen Erfahrungen auf der Chef-Etage, ja, manchmal meinte ich von dieser Seite sogar Neid zu spüren, weil ich mit den Teams so gut auskam…

Mein Chef, Schweinchen Fred, wie unter uns Gnädinger genannt wurde seiner patschigen Schweisshändchen wegen und seines Doppelkinns, das sich vor dem engen Kragen seiner Button-down-Hemden bildete und schon fast wie eine Halskrause aussah, mein Chef führte mit den Mitteln der Rüge und der Androhung. Ein Termin in seinem Büro versetzte mich schon im Vorfeld in die Rolle eines geschlagenen Hundes, und wenn ich dann mit eingezogenem Schwanz die Türe öffnete, so lud ihn dies förmich dazu ein, mir wegen irgendwelchen Dingen lauthals Vorhaltungen zu machen. Es müsse signifikant besser werden, fauchte er mich jeweils an, wobei er stets offen liess, was er denn für gut und besser hielt. Denn selber hatte er nie einen Beitrag zustande gebracht, geschweige denn hätte er mit den Bildern von Mario Comensoli, die er an der Wand hängen hatte, bei mir punkten können. Auch nicht damit, dass er manchmal in der Uniform eines Majors zur Arbeit zu erscheinen beliebte, weil er nach der Arbeit angeblich noch einer militärischen Veranstaltung beiwohnen musste. Gleichwohl hatte ich nicht den Mut, ihm ins Gesicht zu sagen, was ich von ihm und seinen Instruktionen hielt.

Ich aber suchte psychologischen Rat. Ich fühlte mich den Ansprüchen dieses komplexen Betriebs nicht gewachsen, und es störte mich, damit Schweinchen Fred Recht zu geben. Als ich dem Seelenarzt von meiner Bedrängnis berichtete, verschrieb er mir umgehend schwere Psychopharmaka. Endlich einer, der mein Leiden ernst nahm. Der darauffolgende Gang in die Apotheke kam einer erfolgreichen Prozession nach Lourdes gleich. Meine Hand voller Schachteln hochwertiger und effizienter Pillen setzte in mir ein trotziger Genesungswillen frei, der im Vorsatz mündete, dieses Fernsehen dann zu verlassen, wenn ich imstande sein würde, Schweinchen Fred direkt ins Gesicht meine Meinung über ihn sagen zu können. Erst dann. Womit sich die Einnahme der Pillen schwups erübrigte, denn einher mit diesem Vorsatz ging damals auch der Wunsch, nicht der Liga derjenigen beizutreten, die Abhängigkeiten von unangenehmen Personen mit Abhängigkeiten von Drogen ausglichen. Und von diesen gab es ja am Schweizer Fernsehen zuhauf.

Unter dem Personal des Schweizer Fernsehens gab es übrigens noch eine Variante von Unglücklichen, besonders in der Technik. Diese fühlten sich eigentlich zu etwas anderem berufen, als was sie tun mussten. Sie bekundeten Mühe mit ihrem eigenen eingeschlagenen Weg beim Schweizer Fernsehen und ihrer zugeschriebenen Rolle dort: Kameraleute, die eigentlich lieber Regisseure gewesen wären, hätten sie nur einmal die Chance dazu bekommen; Kulissenschieber und Kabelträger, die sich eigentlich als Kunstmaler oder Liedersänger verstanden und nur durch unglückliche Zufälle hier ihren Job tun mussten, jahrelang, vielleicht bis zur Pensionierung; Archivare, die an privaten Anlässen als Komödianten auftraten, vom Fernsehen aber einfach nicht entdeckt wurden; Cutterinnen, die eigentlich zum grossen Kinofilm berufen gewesen wären und stets die Festivals von Berlin, Cannes, Solothurn und Locarno gross in ihrer Agenda eingetragen hatten, als ob sie dort endlich für ihr Lebenswerk ausgezeichnet und über den roten Teppich geleitet würden. Der Umgang mit Leuten, deren Ambitionen durch die herrschenden Verhältnisse beschnitten worden sind und gleichzeitig an Selbstüberschätzung litten, verlangte von uns Redakteuren und Reportern, die wir ja selber mit unserer Stellung im Betrieb unglücklich waren, grosse Aufmerksamkeit und war zielführendem Handeln nicht immer förderlich. Man hatte sich vor ihrer unbeachteten Kompetenz und ihrem darauffolgenden Beleidigtsein in Acht zu nehmen. Wie oft artete das Gerangel um die richtige Gestaltung eines Beitrags in fruchtlose Debatten aus. Meine sorgfältig entwickelten Ideen, welche sowohl die Vorgaben Gnädingers zu berücksichtigen versuchten als auch die Erwartungen eines kulturinteressierten Publikums, ohne selber irgendwo anmassend zu werden, wurden dann von diesen Unzufriedenen als unrealisierbar eingeschätzt und mit alternativen Vorschlägen bedacht. Solche Kollegen besassen ein Verstörungspotential, das demjenigen von Schweinchen Fred durchaus gleichkam.

Meine schönsten und befriedigendsten Zeiten beim Fernsehen waren die Sommermonate, in denen die grossen Kultursendungen eingestellt waren. Dort bedienten wir ein kleines Sendegefäss namens Kultur aktuell, das jeweils nach der sonntäglichen Tagesschau ausgestrahlt wurde. Niemand im Hause interessierte sich so richtig dafür. Die Sendung war eigentlich nur da, möglicher Kritik, das Fernsehen sei im Sommer ein kulturloses Unterfangen, etwas entgegen zu halten. Dass Kultur aktuell wenig Prestige hatte, ersah man schon daraus, dass als Moderatorin Spatzi Ursernstein gewählt wurde, deren Ruf eher durch ihre Teilnahme an Vorabendprogrammen und Kochsendungen geformt worden war. Bereits ihr Name lässt etwas vom Drama ihrer Persönlichkeit erahnen. Auf der einen Seite die Leichtigkeit eines unbedeutenden Vögeleins, das unentweg zwischert, wenn es Futter findet, und auf der anderen Seite der Anspruch schweizerischen Urgesteins, unglaublich wichtig zu sein für die ganze Geschichte unserer Eidgenossenschaft.

Spatzi hatte eine Neigung zur Esoterik, heiratete im Verlauf unserer Zusammenarbeit einen für alle anderen sichtbar schwulen Mann, dessen sie sich aber nach einiger Zeit wieder entledigte. Trotz ihres Hanges zu Feinstofflichem und Astrologie, den ich so gar nicht teilen mochte, bildeten wir ein gutes Arbeitsteam, wobei die Abmachung darin bestand, dass ich für die Kompetenz zuständig war und sie für die Präsentation. Ich schrieb ihr alle Anmoderationen und versuchte ihr jeweils auch zu erklären,  worum es sich beim fraglichen Beitrag handelte. Ich sagte ihr, wie man den Namen dieses Musikers aussprach und von welchem Theaterstück die Rede war und welcher Autor mit welchem Buch zur Debatte stand. Widerspruchslos unterzog sie sich diesem Briefing und lernte brav auswendig, was ich ihr im Verlauf der vorausgegangenen Woche vorgekaut hatte.  Vor der Kamera dann strahlte sie zu meiner grenzenlosen Bewunderung immer die notwendige Kompetenz aus, die man von einem solchen Job erwarten durfte, und die Umfragewerte zeigten, dass die Sendung beim Publikum gut ankam.

Die Anmoderation geschah meistens am Schauplatz des Hauptbeitrags, und wir fuhren für die paar Minuten Aufnahmen oft durch die halbe Schweiz. Auf dem Rückweg kam es dann schon vor, dass wir am lauschigen Gestade eines See anhielten und uns dort einen Joint genehmigten.

Als ich vom Fernsehen fortging, verlor ich auch Spatzi aus den Augen. Jahre später, beim Vorbeifahren an ihrem Haus, sah ich sie im Garten Pflaumen pflücken, und ich schrieb ihr ein paar Zeilen. Sie antwortete umgehend und teilte mir mit, dass es ihr sowohl auf der Ich- wie auch auf der Du-Ebene gut gehe.

Ich selber trug zu meinem schlechten Image in der Kulturredaktion insofern bei, als ich für eine völlig missratene Weihnachtssendung verantwortlich zeichnen musste, während die erste, ein Jahr zuvor, zur Zufriedenheit aller ausgefallen war. In der zweiten Sendung jedoch, mit wesentlich weniger Produktionsmitteln hergestellt, lag die Last des Erfolgs wesentlich auf der guten Laune der Präsentatorin Paula Herrmann. Leider konnte ich diese nicht sicherstellen, weil ich ihr eine allzu bunte Gästeschar eingebrockt hatte, die sie masslos überforderte, und weil ich schlechte Vorgaben fürs Timing gab. Die Life-Sendung lief völlig aus dem Ruder. Es kam weder zu Besinnlichkeiten noch zu interessanten Gesprächen. Einzig die Dekoration und der Braten, den der griechische Koch vorbereitete und während der Sendung auftrug, erinnerten ein bisschen an Weihnachten. In mir setzte sich die Überzeugung fest, dass mir ein solcher Reinfall nicht passiert wäre, wenn ich selber im Studio gestanden und die Gäste empfangen hätte. Ich war überzeugt, dass ich dieser Sendung den notwendigen Witz hätte geben können! Immerhin modertierte ich in den 70er Jahren Woche für Woche Talk-Shows mit Leuten unterschiedlichster Herkunft. An dieser Fernseh-Weihnachtsfeier jedoch musste ich von der Regie aus händeringend und hilflos mit ansehen, wie meine Moderatorin nichts, aber auch gar nichts von dem hielt, wofür ich das Konzept und den Ablauf geschrieben hatte. Sie eierte und schwamm, suchte nach einem besinnlichen Aufhänger, der sich aber bei der Zusammensetzung dieser Studiogäste einfach nicht einstellen liess. Für die Anwesenden hatte sie keine interessante Fragen bereit – und plötzlich war die Sendung zu Ende, noch bevor sie eigentlich angefangen hatte. 75 vertane Minuten – ein Desaster! Schweinchen Fred schrieb darauf allen Abteilungsleitern, man solle von weiteren Engagements mit mir bitte Abstand nehmen!

Doch nicht alle beim Schweizer Fernsehen hatten offenbar diesen Ukas gelesen, oder sie ignorierten ihn. Zu meiner eigenen Überraschung schien mein Ruf nicht durchgängig beschädigt worden zu sein. Viele massen wohl seinen Schriftstücken und seinen Disqualifikationen nicht die von ihm gewünschte Dringlichkeit bei. So kam es, dass ich als Mitarbeiter für ein paar Verantwortliche anderer Sendegefässe immer noch attraktiv blieb. Meine Attraktivität für sie bestand unter anderem darin, dass ich unbekümmert und leichtflüssig parlieren und ein Gespräch in Gang halten konnte. Ich weiss nicht mehr, ob ich in der Kantine sogar einmal Mors Lilla Olle zum besten gab, es hätte aber durchaus möglich sein können. Man wunderte sich jedenfalls, wieso ich in der Kultur nicht auch Aufgaben vor der Kamera wahrnahm, worauf ich nur die Schultern zuckte. Zugetraut hätte ich es mir ja schon.

So erging an mich eines Tages die Anfrage, ob ich mich für die Moderation eines gemeinschaftlichen Kulturprogramms des Zweiten Deutschen Fernsehens, des Österreichischen Rundfunks und des Schweizer Fernsehens zur Verfügung stellen würde. Was für ein Geschenk des Himmels! Ich fühlte mich sehr geschmeichelt und begann noch vor Vertragsunterzeichnung an den darauf folgenden Wochenenden nach Deutschland zu reisen und im nahen Wiesbaden oder drüben im urbanen Frankfurt am Main mit all seinen imposanten Hochhäusern nach einer entsprechenden Bleibe Ausschau zu halten. Die ZDF-Zentrale auf dem Mainzer Lerchenberg, wo die Sendung produziert wurde, sollte von dort aus leicht zu erreichen sein. Dann nahm ich bei Frau Kunz-Kundert, einer ehemaligen Schauspielerin und Radiosprecherin, das Moderations-Training auf.

Zu meinem eigenen Erstaunen fiel mir das Wiedergeben wohlformulierter und auswendig gelernter Sätze bei gleichzeitiger freundlicher Kontakthaltung mit dem anonymen Publikum hinter der Kamera schwerer als gedacht. Die erfahrene Frau Kunz-Kundert identifizierte diese Schwierigkeit als Lampenfieber und empfahl mir Atemübungen, Nacken-Lockerungen, Stehen mit beiden Füssen auf dem Boden und Bauch-Exerzitien. Es harzte. Dann kam noch die Frage nach dem rollenden R hinzu, das uns Schweizern eigen ist. Frau Kunz machte sich stark, es mit einem Gaumen-R zu versuchen, was aber den Fluss meiner Texte zusätzlich verkomplizierte, zumal ich bei jedem zweiten Satz doch wieder ins rollende R zurückfiel.

Frau Kunz, ich bin kein Schauspieler! sagte ich trotzig.

Und Sie wollen diesen Job?, antwortete sie provozierend.

Ich wurde angefragt. Man muss mich nehmen, wie ich bin. Ich bin ein Schweizer mit rollendem R. Nur dann bin ich authentisch und komme rüber!

 Aber ein bisschen kamerageil, ein bisschen neugierig müssen sie schon sein, meinte Frau Kunz!

Bei einem Gaumen-R muss ich auch noch ein helleres A üben, widersprach ich. Das schaff ich nicht!

Das kommt automatisch mit der Übung.

Aber das Aufpassen auf meine Aussprache beschneidet mich in meiner spontanen Wirkung.

Darum sind Sie ja hier. Damit wir das üben können!

 Sie stopfte mir ein Pingpong-Bällchen in den Mund und hiess mich Fischers Fritz fischt frische Fische nachsagen. Immer schneller, immer verständlicher, mit Gaumen-R und hellem A.

Wenn es nach mir gegangen wäre, ich hätte aufgegeben. Aber ich wollte doch gegenüber Frau Kunz-Kundert nicht mein Gesicht verlieren, sie sagte mir oft, es hätten schon Dümmere das Moderatoren-Training mit Erfolg bestanden, was ich ihr wiederum sofort glaubte.

Vielleicht war ich doch ein bisschen kamerageil. Und Gnädinger musste ich noch etwas zurückbezahlen. Vor allem wollte es mir nicht einleuchten, dass ich das nicht kann. Ich machte weiter – mit Ameisen im Bauch und schlaflosen Nächten.

Wer ist jetzt hier die Mutter, die aufschreit, weil sie Olle mit dem Bären sieht? Wer ist der Bär, der eben noch von den süssen Früchten gekostet hat und nach dem Aufschrei der Mutter im Wald das Weite zu suchen droht? Wer ist Olle und wo befindet er sich zur Zeit?

Eine weitere Massnahme für diejenigen, die unter Mangel an Kamerageilheit leiden und mit Lampenfieber zu kämpfen hatten, bestand nach Ansicht von Frau Kunz-Kundert darin, sich anstelle von drei Millionen Fernseh-Zuschauern nur jemand einzelnen vorzustellen, zu dem man in die Kamera spricht. Zu einem guten Freund etwa, zur Tante, oder zur sympathischen und wohlgesonnenen Nachbarsfamilie. Das leuchtete mir ein, und ich versuchte es zuerst mit meiner Mutter. Doch diese Imagination half mir nicht weiter. Ich kannte sie doch, vor allem kannte sie mich. Sie konnte allzu leicht erkennen, dass der, der zu ihr zu sprechen versuchte, nicht ihr Sohn war, sondern eine falsche Nummer, die es ihr nur recht machen wollte, ohne es wirklich auch so zu können. Das  Gaumel-R nahm sie mir beim besten Willen nicht ab. Dafür hatte sie ein untrügliches Gespür bis ins hohe Alter hinein.

Wen sonst hätte ich für mich vor den Fernsehapparat setzen können? Gnädinger? Um Gottes Willen. Vielleicht eine frühere Studienkollegin? Da erinnerte ich mich wieder, dass ich nicht nur im Gymnasium sondern auch noch während des Studiums in einem eher televisionsfeindlichen Milieu verkehrt hatte. Kein Freund hielt viel von dieser Glotzkiste, schon gar nicht von der Kulturberichterstattung. Sport mochte noch angehen, und politische Diskussionen vielleicht auch. Aber bei der Kultur musste man, so die herrschende Meinung in diesen Kreisen, eher darauf acht geben, dass diese vom Fernsehen nicht in 3-Minuten- oder 30-Sekunden-Häppchen verbraten wurde. Also lieber Hände weg davon.

Zum Schluss meiner Evaluation möglicher Fernsehenden blieben mir noch Rolf und dessen Familie! Ich stellte mir vor, dass Stoffners sich nicht sehr für Kultur interessierten. Nur: würde ich mich tatsächlich an sie wenden, so wäre ich mir sicher, dass sich Kenner der Kulturszene für dumm verkauft vorgekommen wären.

Die Adressaten-Frage verunsicherte mich sehr, und ich fuhr, ohne eine Entscheidung getroffen zu haben, an wen ich mich jetzt am Bildschirm wenden sollte, mit gemischten Gefühlen nach Mainz. Ich quartierte mich in der Pension Bleibtreu ein und nahm sofort mit all den Redakteuren, Regisseuren und Mentoren Kontakt auf, die in mir den offiziellen Gesandten des Schweizer Fernsehens für diesen Job sahen, dem helvetischen Aushängeschild des transnationalen Kulturfernsehens, mit dem sie künftig zusammen zu arbeiten hätten.

Bevor es ernst wurde, war ein einwöchiges Training geplant, bei welchem ich von einem bestandenen Moderator begleitet wurde, in meinem Fall von Serge Andermatt, einem Basler, der das Gaumen-R nicht erst lernen musste, weil es im Dialekt dieser Landesregion bereits verankert war.

Die Betreuung war perfekt. Man gab mir Stoff, zu welchem ich Anmoderationen zu formulieren und später im Studio vorzutragen hatte. Ich bereitete mich auf ein paar Interviews vor und bekam immer genug Zeit fürs Auswendiglernen. Ich spazierte im nahen Wald, über welchem die Flugzeuge zum Landanflug nach Frankfurt am Main ansetzten.

Dass es das erste Mal im Mainzer-Studio nicht so gut ging, dafür hatten alle Veständnis. Alles noch neu, alles noch unbekannt. Dass es aber auch die nächsten Male nicht gut ging, ja, dass ich richtige Aussetzer zu verzeichnen hatte, das war schon langsam auffällig. Und mit jedem Male wurde es schlimmer. Was am Montag noch als Nervosität identifizierbar war, wuchs sich im Laufe der Woche zur Panik aus. Meine Einsamkeit und Verlorenheit vor der Kamera wuchsen sich zu einem schon paranoid anmutenden Zustand aus. Die Studioleute rund um mich herum nahm ich nicht mehr als Komplizen wahr, die ihren professionellen Anteil zum Gelingen einer Sendung beitrugen, ich identifizierte sie plötzlich als meine persönlichen Feinde, gegen die ich auch noch anrennen musste, gelangweilte Flegel, die nur warteten, bis der da vorn seinen Senf fertig gesprochen hatte, damit man endlich Brotzeit einlegen konnte. Jede Wiederholung liess die Pause schrumpfen. Ich befand mich auf einer glitschigen Rutschbahn ohne Haltegriff, die mich ohne Umwege direkt in die Schande gleiten liess. Niemand Freundlichen sah ich zu Hause vor dem Bildschirm sitzen, nur hämische Zuschauerinnen und Zuschauer, die sich einen Spass daraus machten, dass da einer stolperte. Solche Szenen erscheinen zum Gaudi aller unter den Titeln Oops oder Pleiten, Pech und Pannen auf billigen Sendekanälen. Ich glaube, ich hätte mich jetzt sogar noch mit einem Gnädinger als fiktivem Zuschauer abfinden können, auch wenn es zum Schluss unweigerlich eine Rüge abgesetzt hätte. Doch bei ihm bekamen wenigstens alle Mitarbeitenden Rügen, da war es dann einerlei, ob einer wirklich katastrophal gewesen war oder ob bei einer Präsentation lediglich sein linker Kragen hochgestanden war.

Mattscheibe als Folge von Panik. Mir kamen die Texte abhanden und der Sinn, weshalb gerade ich hier im Studio stehen und ein freundliches Gesicht zeigen sollte. Das rote Licht an der Kamera signalisierte Stopp. Ich wurde mit Frost beschlagen, erstarrte vor diesem roten Auge, und meinem Mund entwich nur noch kalter, wortloser Hauch. Mit dem Blick der Mutter sah ich diesen Bären, dem das Heben seiner Tatze genügt hätte, Klein Olle zu Boden zu werfen. Nein, er hat ja bereits die Tatze erhoben und wirft jetzt mit einem Schlag Klein Olle ins Gebüsch, wo er betäubt liegen bleibt. Bin ich Gross Olle, der plötzlich im Bären eine Gefahr erkannte? Oder war die Mutter das rote Licht?

Fluchtartig verliess im am Freitag darauf das ZDF, schrieb allen, die sich für mich eingesetzt hatten, einen Verzichtsbrief, etwas anderes hätten sie von mir auch nicht erwartet. Immerhin hatte ich genug Realitätssinn, die Sachlage selber richtig einzuschätzen und nicht erst gesagt zu bekommen, wie es um mich bestellt war.

Ich tröstete mich später und allmählich mit dem Gedanken, dass manche erst in Gefahr zur Höchstform auflaufen (solche Leute werden gerne Feuerwehrmänner oder arbeiten im Katastrophendienst). Erst die Bewährungsprobe und die Herausforderung erlauben diesen, zu dem zu werden, was sie auszeichnet und letztendlich ausmacht. Erst unter dem gleissenden Licht des Mainzer Senders wurde mir klar, dass Fernsehen offensichtlich nicht mein Weg ist, um zur Höchstform aufzulaufen. Zu grosse Tiere, zu gefährliche Früchte, zu dunkle Wälder. Seither liess ich die Finger davon und versuchte, meinem Leben eine andere Richtung zu geben.

© by Nikolaus Wyss

 

 

 

 

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